Sterben in Echtzeit

Generationen im Gespräch Gestern Abend erklärte Philipp Ruch im Gespräch mit Franziska Heinisch (vom Jugendrat der Generationenstiftung) in der Kreuzberger Heilig-Kreuz-Kirche die im Mittelmeer

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Gestern Abend erklärte Philipp Ruch im Gespräch mit Franziska Heinisch (vom Jugendrat der Generationenstiftung) in der Kreuzberger Heilig-Kreuz-Kirche die im Mittelmeer ertrunkenen Geflüchteten zu „unseren Toten“. Das europäische Grenzregime habe eine neue Mauer errichtet.

Franziska Heinisch, Philipp Ruch

Eingebetteter Medieninhalt

Vorbemerkung zur Verlegung der europäischen Außengrenzen nach Nordafrika

Ovid trennt der Limes vom skythischen Nichts. Der römische Grenzbegriff ist mächtig aufgeladen. Ovid erwartet in seiner Verbannung von einer Verschiebung des Limes die Verschiebung des Nichts.

Ovid verbindet mit dem Nichts ein Jenseits. Seinen Begriff von einer Grenze prägt der Limes sowie die römischen Vorstelllungen von Germanien. Jacob Grimm entdeckt die ursprünglichste Bedeutung von Grenze in Eigentumsregelungen.

„Die Grenze (ist) ein empfindlicher Rand, reizbar und bissig wie ein Nerv“, schreibt Francesco Magris.

Magris beschäftigt sich mit Vorreitern neuer Grenzziehungen – den Repräsentanten der Grenzregimes und ihren Antagonisten. In der Literatur, so Magris, verändern sich die Spielregeln, nach denen Ränder von Zentren unterschieden werden, u.a. im Werk von Dostojewski. Der Autor und seine Agenten stürzen ab und landen in der Manege, wo sie sich von den an Fäden hängenden Figuren nicht mehr unterscheiden. Von dieser Entmachtung führt kein Weg zurück in die Himmel des gottgleich allmächtigen Erzählens. Die Beatles kamen aus Liverpool und verschoben die Grenzen von London. Ohne das alte, in den weltumspannenden Rostgürtel des vergangenen Industriezeitalters geschnallte Liverpool, kein Swinging London.

Die Migration liefert den europäischen Ländern einen neuen Rahmen. Die Außengrenzen der europäischen Union unterlagen Jahrzehnte keinen besonderen Feststellungen. An ihnen bewies sich die Freizügigkeit der Union zuerst. Erst in den 1990er Jahren geriet das europäische Grenzregime in die Kritik. Die Festung Europa entstand ohne einen Vorlauf architektonischer Experimente.

Der Raum ersetzt die Linie

Man wich ab von der Demarkationslinie und definierte den Grenzbegriff räumlich. Die Neuordnung gestattete eine tief gestaffelte Überwachung. Im nächsten Schritt fasste man die Schengen-Staaten als römischen Kern auf: im Verhältnis zu konzentrisch ihn einschließenden Pufferstaaten mit subventionierten Abwehrapparaten. Das System erhält den Bürgern der Union die Freizügigkeit im Geist einer Grenzpolitik ohne Kontrollen als europäische Errungenschaft.

Keinem kann ein Asylverfahren verweigert werden, der aus Not und Verfolgung kommend, Deutschland erreicht. Entscheidend für das Recht auf ein Verfahren ist ein Fuß auf deutschem Boden. Die Verlegung des Grenzschutzes an die europäischen Außengrenzen untergräbt zwar die Genfer Konventionen, verringert aber effektiv die Anzahl der Verfahren.

Der zweite Angelpunkt des europäischen Grenzregimes ist das sichere Herkunftsland. Reist jemand aus einem als sicher eingestuften Staat ein, hat sein Asylantrag wenig Aussicht auf Erfolg. Im Interesse der EU liegt es, den einschlägigen Sicherheitsstandard niedrig zu veranschlagen. Ein Beispiel für die Unterschreitungsbereitschaft ist das EU-Türkei-Abkommen von 2016. Die Migration wird da gestoppt, wo Menschenrechtsverletzungen das geringste mediale Echo haben. Der Überquerung der Grenze zur Türkei stellt sich als gefährliches, mitunter lebensgefährliches Unterfangen dar. Der Grenzschutz steht unter dem Druck, Erdogans Verhandlungsposition in Europa mit Abfangerfolgen zu stärken. Für geflüchtete Kurden endet die Kampfzone nicht an der syrischen Grenze.

Hat man es bis aufs Mittelmeer geschafft, wird die türkische Küstenwache zum Gegner.

Frontex-Mitarbeiter*innen, so Ruch, beobachten „das Sterben in Echtzeit“ auf ihren Bildschirmen sonst wo in Europa. Drohnen übertragen die Bilder von „in Wellen verschwindenden Schlauchbooten“ in die Büros.

„Das sind unsere Toten“, sagt Philipp Ruch im Gespräch mit Franziska Heinisch (vom Jugendrat der Generationenstiftung) in der Kreuzberger Heilig-Kreuz-Kirche.

„Betonfest“ nennt er die transnationale Politik der Flüchtlingsabwehr.

Woher nehmen wir das? fragt Ruch dem Sinn nach. Was macht uns so moralisch wetterfest und unempfindlich?

Ruch erklärt das Phänomen mit einem „moralischen Zusammenbruch, der bereits stattgefunden haben könnte“, ohne dass es uns aufgefallen wäre.

Ruch konstatiert eine historisch konstante Gleichzeitigkeit. „Gleichzeitig wird (im Mittelmeer) gebadet und gestorben. Der politische Philosoph kommt auf Voltaire und Lissabon, um einen Vergleich scharf zu machen. 1755 forderte das große Erdbeben von Lissabon auf der Stelle dreißigtausend Tote. Goethe fasste das Glück im Unglück: „Und der Glücklichste darunter ist der zu nennen, dem keine Empfindung, keine Besinnung über das Unglück mehr gestattet ist. Das Ereignis bestimmte die Richtung des aufgeklärten Katastrophendiskurses. Es transformierte das europäische Denken nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass zwar so gut wie alles in der Erde versankt, dass Rotlichtquartier aber verschont blieb. Während das Ausmaß der portugiesischen Verheerungen seine Konturen allmählich erkennen ließ, wurde in Paris getanzt.

Die Feststellung dieser Gleichzeitigkeit ordnet Ruch Voltaire zu. Für Goethe gewann die Kunde vom Beben und der mit dem Beben einhergehenden „Wasserbewegung“ (Immanuel Kant) aka Tsunami die Kraft eines Schlüsselerlebnisses: „Durch (das) außerordentliche Weltereignis wurde jedoch die Gemütsruhe des Knaben zum erstenmal im tiefsten erschüttert.“ Originale Rechtschreibung aus „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“.

Voltaire dichtete empathisch: „Betrogene Philosophen. Ihr schreit: „Alles ist gut!“

Er riet der Gemeinde: Kommt her und seht selbst. Guckt euch das Desaster an … die schwelenden Ruinen und abgesprengten Gliedmaße.“

Ruch stößt ins gleiche Horn. Jetzt weiß ich, wo dieser Mann herkommt und kenne nun seinen Ort. Voltaire verlor seinen Glauben an die Gleichzeitig von harmloser Geselligkeit und massenhaftem Sterben.

Ruch erklärt: „Alle Zahlen sind Euphemismen.“

Gemeinsam mit den Aktivist*innen seines Zentrums für politische Schönheit wollte er im Mittelmeer nach den Knochen der ertrunkenen Geflüchteten tauchen. In vier Tagen sei jeder Leichnam „unter Idealbedingungen“ zersetzt bis auf blankes Gebein. Der Plan zerschlug sich, aber wir sehen, Ruch sucht nach Wegen, das Grauen sichtbar zu machen. Er spürt das Joch der Verantwortung, das nach seinen Begriffen auch allen anderen auferlegt ist. Von daher ein Wir der Gewissenhaften im Kampf gegen die Ruchlosen im Plural ihres mannschaftlichen Aufkommens.

Endlich erhält auch Franziska Heinisch das Wort. Dachte wir bis eben, sie suche den Streit mit dem beinah doppelt so alten, von der Zeit gebürsteten Haudegen des zivilgesellschaftlichen Widerstands, sehen wir uns sogleich belehrt:

„Du hast gesagt, wir sind in einem Kampf“, fragt Heinisch nach.

Ruch bestätigt die eigene Ansage. Er holt aus:

„Die AfD hat den (demokratischen) Konsens aufgekündigt.“

Bald mehr.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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