Suchlauf des Todes

Literatur Michel Houellebecq schreibt Puffprosa. Man könnte auch sagen, er schreibt mit dem Mittelfinger der Verachtung für seine „Unterschichtsleser(*innen)“

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Michel Houellebecq: Der alte weiße Mann zwischen Aporie und Agonie, aber immer noch mit Aplomb im Mercedes G 350 TD auf der Autobahn
Michel Houellebecq: Der alte weiße Mann zwischen Aporie und Agonie, aber immer noch mit Aplomb im Mercedes G 350 TD auf der Autobahn

Foto: Francois Berthier/Contour via Getty Images

Zwischen Aporie und Agonie im Offroader Benz G 350 TD auf der Autobahn. Die Werbung sagt: keine Steigerung möglich. - Michel Houellebecq erzählt in „Serotonin“ die Geschichte eines Mittelschichtmonsters, das sich als „substanzloses Weichei“ erlebt.

Es ist alles Attitüde. Selbst die Homophobie des Helden klingt lediglich als Echo an. Florent-Claude ist ein Bruder im Geist jenes verlotterten Philologen François, der in „Unterwerfung“ behauptet, sein Habilitationsgegenstand Joris-Karl Huysman habe sich nach „einer Kochtopf-Frau“ gesehnt, die in gewissen Stunden „zur Dirne“ wird. Das erzählende Ich findet eine Sauce béarnaise komplizierter als alle Kombinationen menschlicher Eigenschaften. Die Nähe von Kochtopf und Kopftuch ist ein Lapsus, der Skandal des Romans besteht darin, einer einfachen Wahrheit nicht die Aussicht zu verstellen. Das Ende des sozialdemokratischen Laissez-faire (siehe hierzu Didier Eribons Ankündigung der Gelbwesten) braucht den Islam nicht als Untergangsbegründung. Was zählt, ist Fertilität – sind die demografischen Parameter, die eine Gesellschaft nicht vor die Hunde der Kinderlosigkeit gehen lassen. Die Islamisierung der Französischen Republik reorganisiert das auf einen Buchgott bauende Patriarchat als Garanten der Reproduktion.

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François leistet keinen Widerstand. Er ist so politisch „wie ein Handtuch“. Diese Dekadenz erscheint in „Serotonin“ als Spiegelung auf dem verdunstenden Teich einer abgelebten – und das ist interessant – ortlosen Normalnullexistenz. Das Alter, das den durchschnittlichen Bringer Florent-Claude Pierre Labrouste wie einen Versager aussehen lässt, hat keinen eigenen Raum mehr und entspricht im Störungsspektrum einem Senioren-Hospitalismus – das ganze Leben ist ein Heim.

Florent-Claude ist sechsundvierzig. Er verachtet seinen Namen (abgesehen von Pierre-Stein) als weibisch. Ihm reicht in jedem Fall eine Konstruktion, ob von Männlichkeit oder Gemütlichkeit. Er nimmt, was er kriegen kann, und so auch Präparate aus aktuellen Antidepressiva-Produktlinien.

Michel Houellebecq, „Serotonin“, Roman, Dumont, 334 Seiten, 24,-

Medikamente erlauben Florent-Claude ein auf „gute Nachbarschaft beschränktes Sozialleben“ zu führen. Anders gesagt, Houellebecq tritt ununterbrochen das gleiche Pedal. In der totalen Entfremdung sind alle Verbindungen mechanisch. Der Mensch mutiert zum Glied. Stimmungsaufheller wirken wie Mechaniker der Zukunft.

Die Verdinglichung regiert die Person, während das Ding erwacht.

Hochgestimmt beobachtet der Proband Libidoverluste als Nebenwirkung seiner Lieblingspille. Ich habe dieses halberfrorene Lamento ein paar Mal zu oft gelesen. Schlechtere Schriftsteller als Houellebecq zeigen deutlicher die Grenzen des Genres. Der alte weiße Mann (das Mittelstandsmonster) zwischen Aporie und Agonie, aber immer noch mit Aplomb im Mercedes G 350 TD auf der Autobahn. Die Werbung sagt: „Keine Steigerung möglich. Die DNA eines Geländewagens – ikonisch, robust und beinahe unverwüstlich. Wer glaubt, dass die neue G-Klasse nur im Gelände in ihrem Element wäre, der irrt gewaltig. Auch auf der Straße wird schnell klar, dass der Offroader keine Kompromisse kennt. Unterwegs erreichen Dynamik und Komfort ein ganz neues Level und bringen den Fahrspaß in Sphären, die G-Klasse Fahrer aus dem Gelände längst gewohnt sind.“

Der ganze Houellebecq steckt in diesem Werbescheiß. Florent-Claude sieht zwei „echte Mädchen“ vor den erregenden Aufbauten einer Tankstelle. Ein Mädchen trägt „enganliegende Shorts“.

„Es war unmöglich, nicht von ihrem Arsch hypnotisiert zu werden.“

Houellebecq schreibt Puffprosa und gibt noch nicht einmal vor, auf einer narrativen Nebenstrecke die Sache für seine Kritiker*innen anzuheben. Man könnte auch sagen, er schreibt mit dem Mittelfinger der Verachtung für seine „Unterschichtsleser(*innen)“.

Ausgangspunkt der Handlung ist eine Szene in der Ära Macron. In Prozessen des Begreifens der eigenen, kostspieligen Belanglosigkeit ist Florent-Claude der Welt abhandengekommen. (Paris war die Hölle seiner Jugend.) Unwillkürlich dockt er überall da an (und kauft sich da ein), wo der Überfluss sich mit Überflüssigem verbindet.

Florent-Claude ist solange im Landwirtschaftsministerium beschäftigt, bis er beschließt, sich in Luft aufzulösen, um seine japanische Lebensgefährtin Yuzu nicht umbringen zu müssen. Diese Volte ist kaum motiviert, wenigstens an dieser Stelle ist Houellebecq Plausibilität egal. Florent-Claude kündigt Job und Wohnung. Er erkennt: Man braucht keine physische Adresse mehr, um eine bürgerliche Fassade nicht einstürzen zu lassen; eine E-Mail-Adresse reicht.

Er setzt sich in Bewegung. Der Suchlauf des Todes hat begonnen.

Michel Houellebecq, „Serotonin“, Roman, Dumont, 334 Seiten, 24,-

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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