Abdulrazak Gurnah - Der englische Patient

#TexasText/Jamal Tuschick Abdulrazak Gurnah, „Die Abtrünnigen“ - Während seiner Morgenroutine im Dunstkreis einer Moschee findet ein Muezzin einen - nach seinen Begriffen - exotischen Menschen im Zustand der Bewusstlosigkeit.

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Weiße Privilegien

Mombasa 1899. Viele Bürger:innen haben noch nie einen Weißen gesehen. Sie werden von Leuten beherrscht, ausgebeutet und geringgeschätzt, die weit jenseits ihres sozialen Horizonts existieren. Zwei Briten repräsentieren vor Ort das Empire. Als Vertreter seiner Majestät fungiert Frederic Turner an erster Stelle. Er taugt als Musterbeispiel für einen hochmütig-voreingenommenen und korrupten Regierungsbeamten. Zugleich zitiert er Rimbaud. Er wird einmal als emeritierter Literaturprofessor auf ein bewegtes Leben zurückblicken. Im Augenblick des Romanauftakts verbindet ihn mit der biografischen Volte noch nicht einmal eine Ahnung. Der mediokre Plantagenverwalter Burton ist der einzige andere Weiße in Turners Reichweite, bis eines Tages …

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Während seiner Morgenroutine im Dunstkreis einer Moschee findet ein Muezzin einen - nach seinen Begriffen - exotischen Menschen im Zustand der Bewusstlosigkeit. Hassanali lässt ihn in sein Haus schaffen. Dahin bequemt sich dann auch Turner mit der Idee, den Weißen vor der Bevölkerung schützen zu müssen.

Martin Pearce er holt sich in der Regierungssphäre. Der Rekonvaleszent brilliert in der Rolle des englischen Patienten.

Abdulrazak Gurnah, „Die Abtrünnigen“, Roman, aus dem Englischen von Stefanie Schaffer-de Vries, Penguin Verlag, 26,-

Turner und Pearce sind sich viel näher als es zunächst den Anschein hat. Sie sind Koryphäen in spe. Beide erwartet akademischer Ruhm. Doch noch ist jeder in seinem eigenen afrikanischen Abenteuer verstrickt. Pearce erscheint als ein von des Gedankens Blässe angekränkelter Schöngeist. Seine Persönlichkeit variiert Joseph Conrads Marlow und Shakespeares Hamlet. Er hat das Grauen gesehen. Zuwider ist ihm das bramarbasierende Gebaren der Großwildjäger:innen.

„Wir stanken nach Blut und Eingeweiden … Die Fliegen ließen sich auf uns nieder wie auf Aas.“

Pearce verlangt von sich selbst - im Kolonialkontext - untypische Tugenden. Er will kein imperial-militanter Bezwinger, kein technokratischer Optimierer, kein skrupelloser Nutznießer europäischer Vorsprünge sein.

Er bedankt sich bei Hassanali und verliebt sich in dessen Schwester. Geschützt von seinen weißen Privilegien genießt Pearce eine schöne Zeit. Rehana erleidet eine Tragödie der Deklassierung.

Die Ausnahme von der Regel - 1887 besiegten äthiopische Truppen ein italienisches Expeditionsheer

Abdulrazak Gurnah streift herausragende Episoden der Kolonialgeschichte. Unter anderem bereiste Pearce „Abessinien“ - Äthiopien. Turner interviewt ihn zu den britischen Aussichten, nachdem die Italiener:innen das abessinische Feld räumen mussten.

Die Regel besagte: Weiße schlagen Schwarze. In der Schlacht bei Dogali schlugen Schwarze Weiße. Die Ausnahme ließ sich Europäer:innen nicht objektiv vermitteln. Zeichnungen in französischen Magazinen zeigten den kaiserlichen Heerführer Menelik II. als Weißen im Strahlenkranz.

Der Schwarze Sieg entfaltete Signalwirkung bis in die Karibik. Es gab das kaiserliche Gelöbnis, im Siegfall eine Kathedrale zu bauen und sie dem heiligen Georg zu widmen. Den Tabot weihte man auf einem Schlachtfeld. Italienische Kriegsgefangene übernahmen die Bauarbeiten. Wer weiß so etwas?

Die modernen Waffen der Äthiopier:innen stammten aus Italien. geliefert. Die Italiener:innen hatten Äthiopienfür ein Reservoir der unterwürfigen Hilfsbereitschaft gehalten. Das Land bot ein festgefügtes, christlich-orthodox grundiertes Staatswesen.

Ein europäischer Irrtum des 19. Jahrhunderts bestand darin, zu glauben, Jesus in Afrika popularisiert zu haben. Tatsächlich war er da lange vorher angekommen. Von Äthiopien gingen befreiungstheologische Impulse um die Welt. In die Schlacht von Adua führte Kaiser Menelik II. eine landesweit mobilisierte Miliz, die sich selbst versorgte, soweit sie nicht von ihren Anführer:innen ausgestattet wurde. Mitunter kamen komplette Familien, die Frauen richteten Feldküchen ein und sangen Kampflieder. Sie trieben ihre Männer an, indem sie deren Tapferkeit rühmten. Freiwillige erschienen unbewaffnet auf dem Schlachtfeld, dabei sein war alles. Auf der anderen Seite gab der Tiroler Oreste Baratieri die Befehle. Das Scheitern der Invasion garantierte die äthiopische Unabhängigkeit als eine Sonderform der Regierung im kolonisierten Afrika.

Freiheitsbewegungen schöpften von daher Mut. Die Sache hatte einen Haken. Der Haken hieß Eritrea. Die vormals äthiopische Provinz wurde zur Kolonie der gescheiterten Invasoren. Es bieten sich verschiedene Lesarten der Preisgabe Eritreas an. Italien erlebte die Niederlage von Adua als ‚nationale Schande‘. Der afrikanische Sieg war ein Schock für Europa.

Brutale Diplomatie - Am Vorabend der Befreiung

Ein Zeitsprung katapultiert die Leser:innen in die 1950er Jahre. In der Hochzeit des afrikanischen Befreiungskampfes sind die Akteure des ersten Durchgangs tot. Der Autor folgt den Lebensläufen der Geschwister Farida, Amin und Rashid.

Amin verliebt sich in die Enkelin einer Stigmatisierten. Jamila und ihre Mutter Asmah erleiden Nachteile in der Konsequenz einer Liebesentscheidung, die Jamilas Großmutter Rehana in einem letzten Augenblick des 19. Jahrhunderts traf. Die Geächteten kämpfen mit Vorurteilen, während die Kolonialmächte mit Gewalt und „brutaler Diplomatie“ den imperialen Status quo verteidigen. Dazu bald mehr.

Aus der Ankündigung

Sansibar in den frühen 1950er-Jahren: Inmitten politischer Umwälzungen und Aufständen gegen die Kolonialherren wachsen die Geschwister Amin, Rashid und Farida auf. Amin, der Mittlere der Brüder, verliebt sich in Jamila, doch die Leidenschaft zerbricht schon bald am Widerstand seiner Familie und Gerüchten um die Vergangenheit der jungen Frau. Es heißt, ein Fluch liege auf ihrer Verwandtschaft. Im Strudel der Revolution trennen sich die Lebenswege der Geschwister. Rashid beginnt ein Studium in London, das Schicksal von Amin und Jamila lässt ihn aber selbst in der Ferne nicht los. Er begibt sich auf eine Spurensuche, die ihn tief in die afrikanische Kolonialgeschichte führt – und bis zum Geheimnis um Jamilas Familie. Deren Großmutter hatte für eine verbotene Liebe zu einem britischen Orientalisten einst alles riskiert... »Die Abtrünnigen« zeigt Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah erneut als großartigen, politisch hellsichtigen Erzähler von Geschichten, wie wir sie noch nie zuvor gelesen haben.

Zum Autor

Abdulrazak Gurnah (geb. 1948 im Sultanat Sansibar) wurde 2021 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Er hat bislang zehn Romane veröffentlicht, darunter »Paradise« (1994; dt. »Das verlorene Paradies«; nominiert für den Booker Prize), »By the Sea« (2001; »Ferne Gestade«; nominiert für den Booker Prize und den Los Angeles Times Book Award), »Desertion« (2006; dt. »Die Abtrünnigen«; nominiert für den Commonwealth Writers' Prize) und »Afterlives« (2020; dt. »Nachleben«; nominiert für den Walter Scott Prize und den Orwell Prize for Fiction). Gurnah ist Professor emeritus für englische und postkoloniale Literatur an der University of Kent. Er lebt in Canterbury. Seine Werke erscheinen auf Deutsch im Penguin Verlag. »Einer der herausragendsten postkolonialen Schriftsteller der Welt. Kompromisslos und mit großem Mitgefühl durchdringt er in seinen Werken die Auswirkungen des Kolonialismus in Ostafrika und seine Auswirkungen auf das Leben entwurzelter und migrierender Menschen.« Anders Olsson, Vorsitzender des Nobelkomitees (07. Oktober 2021)

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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