Abstinente Adoleszenz

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“Everything in the world began with a yes. One molecule said yes to another molecule and life was born.” Clarice Lispector

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„Er sprach langsam und bequem, so wie man sich wohl einen bejahrten Monarchen denkt, wenn er redet.“ Eckermann über Goethe 1823

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„In Jena gefiel es mir auf die Länge nicht; es war mir zu stille und einförmig.“ Johann Peter Eckermann

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„In der Erinnerung blühen die Bilder mit der Macht ihrer Abwesenheit.“ Heiner Müller

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„Was ist da nicht alles in den Brunnen gefallen! Wenn ich alles gemacht hätte, was ich recht gut hätte machen können, es würden keine hundert Bände reichen.“ Goethe zu Eckermann 1823

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Die Gegenwart will ihre Rechte; was sich täglich im Dichter von Gedanken und Empfindungen aufdrängt, das will und soll ausgesprochen sein. Goethe zu Eckermann 1823

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„Wir sind Überlebensmaschinen - Roboter, blind, programmiert zur Erhaltung der selbstsüchtigen Moleküle, die Gene genannt werden.“ Richard Dawkins

Intelligenter Idiot

Goya entzieht sich dem Trubel im ehemaligen Tanzsaal der Burg. Er wechselt auf die andere Straßenseite ins Schwarzburg 82. Grete empfängt ihn wie einen privaten Gast. Seit er Ansehen genießt, treibt Goya die Lust um; dies im Nachgang einer abstinenten Adoleszenz. Bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr rangierte Goya unter ferner liefen. Er war ein Kandidat für experimentell kurze Versuche. Die meisten Bürgerinnen wandten sich schaudernd ab. Goya florierte als Tropf und intelligenter Idiot.

„Das ist ein Mündel und kein Mann“, hieß es.

In seinen frühen Dreißigern drehte sich das Rad. Plötzlich gefiel er Frauen, die ihren ersten Ehedurchgang hinter sich gebracht und unterdessen gelitten hatten. Noch hielt der Lack. Als Alleinerziehende mit geringem Einkommen bemerkten sie nicht nur die fabelhafte Mühelosigkeit der Existenz eines Alimentierten, sondern auch das nahezu widerstandslose Entgegenkommen eines (vielleicht pathologischen) Wonnepfropfens. Im Jetzt der Ereignisse wähnen sich vier Frauen in engster Verbindung mit Goya. Der Eindruck trügt in keinem Fall. Dazu kommt eine inzwischen zwanghafte Untreue.

Goya Thunderbolt entstammt einer doppelt dynastischen Konstellation mit allem Frankfurter Patrizier-Pipapo. Da ist jede Menge alter Zaster im Spiel. Der bis zum Aberwitz unselbständige Erbe wohnt im Eigentum. Die Etage kursiert im Volksmund als Museum und wurde auch schon mit einer pharaonischen Grablege verglichen. Goya versorgt Frankfurter Museen mit ständigen Leihgaben. Exponate umzingeln ihn.

Grete serviert Goya einen Spritzer aus der Abteilung Spezialabfüllung. In ihrem Faulenzer schwimmt eine mit Eis gefüllte Plastikspritztube, in der sonst Senf ist. Grete erzählt, dass Winnie sie gestern Nacht darum gebeten hat ... „Das waren seine Worte“, betont sie. Bei ihren Gästen unterscheidet Grete zwischen Bibern, Lauch (ohne Plural) und Lappen. Ihre direkte Ansprache verstört manche, doch besteht sie als Geschöpf der Gegend auf das Privileg der Unmittelbarkeit.

Stammgäste schwören auf Grete und haben sie zur Umsatzkönigin gemacht. Nehmen wir Winnie. Es ist immer gut für zehn dunkle Weizen. Jeden Abend hat Winnie seine dreiunddreißig DM Minimum auf dem Deckel, und wenn Grete Zeit hat und gut aufgelegt ist, lässt sie ihn noch einmal für wenigstens die Hälfte seiner üblichen Zeche komische Sachen sagen. Dabei steigert er sich.

„Ich kann dir jetzt schon sagen“, sagt Grete, während sie die federleicht aufgeschlagene Stella umarmt und Doktor Mansour zu verstehen gibt, dass er lästig wird, „demnächst will er, dass ich mir Schuhe mit hohen Absätzen zulege und ihm die Absätze nach Feierabend ...“
Grete äußert sich so ohne Verachtung und Erstaunen.

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Vieles liegt im Argen, aber der Anzug sitzt. Doktor Mansour nimmt Anlauf. Er prahlt mit seiner einzigen Veröffentlichung. Er bietet pompöse Formulierungen auf. In der Wüste seiner Kindheit wurde jede Regung einem gewalttätigen Gemeinschaftsdienst zugeführt. Nur für Ideale gab es einen Markt. Man hatte zu glühen. Doktor Mansour erlöste sich davon in Frankfurt, während Kommiliton:innen den bewaffneten Kampf gegen ihren Staat erwogen. In den besetzten Häusern des Westends nannte man ihn Kalaschnikow. Er kannte sich schon mit Feuerwaffen aus, als deutsche Studierende waffentechnisch noch in der Steinzeit lebten. Joschka Fischer ließ sich von ihm beraten. Später entdeckte Doktor Mansour die deutsche Pilsstubengemütlichkeit und stieg zum Ayatollah von Bornheim auf. Manche finden es lustig, den Saufbruder aus dem Morgenland ‚Schweinebacke‘ zu nennen. Das kommt für Goya nicht in Frage. Mit dieser zärtlichen Zuschreibung bedenkt er immer noch und ausschließlich einen Freund, der als Metzgersohn, über die Grundschulzeit hinaus, Fleisch unter seinen Fingernägeln vergammeln ließ. Obwohl Frank Sinnig nach Aas stank, hielt Goya jahrelang neben ihm aus. Goya aß sogar die Fettbomben des anderen. Frau Sinnig hatte mit ausgewogener Ernährung nichts am Hut.

Klassenstinker

„Erinnerst du dich an die echte Schweinebacke?“ fragt Goya störrisch. Er richtet die Frage an Stella. Auch diese beiden kennen sich schon eine halbe Ewigkeit und so auch aus der Anstalt (Musterschule). Stella konnte bis gestern nie was mit Goya anfangen. Nun sieht sie ihn mit anderen Augen. In seiner Aura gibt es keine Verschleißmarke. So als sei Goya zehn Jahre schockgefroren konserviert aus dem Verkehr gehalten und vor kurzem erst wieder aufgetaut worden. So sieht sonst kein Sechsunddreißigjähriger aus. Die meisten Sechzehnjährigen wirken älter als Goya.

Stella könnte mit soliden Erinnerungen an Schweinebacke aufwarten. Doch fällt es ihr nicht im Traum ein, dem Klassenstinker ein Denkmal mit ihrer Aufmerksamkeit zu errichten. Sie kehrt Goya den Rücken zu und erlaubt es Doktor Mansour, in ihre Richtung zu tröten. Dem alten Schwerenöter fehlen Antennen für die eigenen Verluste. Er kapiert nicht, wie abgewrackt er auf seiner Lebenszielgerade angekommen ist.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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