Anna Caritj - Sexistischer Campus-Code

#TexasText/Jamal Tuschick Anna Caritj, „Flüchtige Freunde“ - Sexistische, mit rüdem Selbstverständnis perpetuierte Camp-Codes irritieren Leda. Sie prüft die Valeurs, entschlossen jede unbestreitbar erforderliche Anpassung an die herrschenden Verkehrsformen ...

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Lob!

Lieber Herr Tuschick,

wieder eine typische Jamal-Tuschick-Rezension: feinsinnig, intellektuell und auf den Punkt gebracht!

Danke, dass Sie den Schluss nicht verraten haben!

Herzlich,

Klaus Heller

Das Lob bezieht sich auf diese Besprechung: Profund und kurzweilig.

Brutaler Kreislauf

“Misery acquaints a (wo-)man with strange bedfellows.” Shakespeare

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“A sudden blow: the great wings beating still Above the staggering girl, her thighs caressed/By the dark webs, her nape caught in his bill,/He holds her helpless breast upon his breast.” William Butler Yeats, „Leda and the Swan“

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„Die Böcke bekamen nie genug. Aber, dachte Leda, wenn Tiere nach dem Sex vollkommen befriedigt wären, gäbe es wohl viel weniger davon. Dann würden sie nicht so viel Energie in das Streben danach stecken. Vielleicht war das beim Menschen nicht anders: ein brutaler Kreislauf aus Leidenschaft und Enttäuschung.“

Strange Bedfellows

Mit widersprüchlichen Empfindungen (in der ganzen Bandbreite zwischen Ablehnung und Zuneigung) lässt sich Margot auf Robert ein. In seinem Bett möchte Margot ihre Zustimmung zurückziehen.

„Wie sie ihn da so sah, so ungelenk vornübergebeugt, mit dem Bauch, dick und weich und stark behaart, dachte Margot: O nein. Aber der Gedanke daran, was es an Aufwand bedeuten würde, jetzt zu stoppen, was sie in Bewegung gesetzt hatte, war überwältigend.“

Das erzählt Kristen Roupenian in „Cat Person“.

Kristen Roupenian, „Cat Person“, aus dem Amerikanischen von Nella Beljan und Friederike Schilbach, Blumenbar, 20,-

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Anna Caritj, „Flüchtige Freunde“, Roman, übersetzt von Christiane Sipeer, Piper, 24,-

In Anna Caritjs Roman „Flüchtige Freunde“ macht Leda ähnliche Erfahrungen mit einem Kommilitonen, dessen Namen sie zum Zeitpunkt des Geschlechtsverkehrs nicht kennt. Sie findet die männliche Coup d‘un soir-Routine impertinent. Trotzdem bleibt Raum für Ambivalenz. In einem post-koitalen Moment erwägt Leda, sich zu dem sozial-tauben, unmittelbar nach dem Akt eingeschlafenen Beischläfer zu legen, um ihren Oxytocin-Bedarf zu regulieren.

Sexistische, mit rüdem Selbstverständnis perpetuierte Camp-Codes irritieren Leda. Sie prüft die Valeurs, entschlossen jede unbestreitbar erforderliche Anpassung an die herrschenden Verkehrsformen zu vollziehen. Aufgewachsen mit einer alleinerziehenden, im Handlungsjetzt vor drei Jahren verstorbenen Mutter, unterstellt sich Leda auf der ganzen Linie soziale Defizite. Ständig bezweifelt sie ihre Kompetenz. Darauf bedacht, in keinen Fettnapf zu treten, martert sie sich mit Abwägungen. Wenig fürchtet sie mehr als den Ausschluss aus ihrer College-Sorority/Schwesternschaft.

Leda gestattet sich nicht, die Verstörung zur Kenntnis zu nehmen, die sich allmählich in ihr breit macht.

Sie studiert Spanisch. In ihrer Freizeit bewegt sie sich auf einem Sport- und Party-Parcours im Rahmen des Verbindungswesens. Sie versäumt keine Gelegenheit, an einem schicklichen Besäufnis teilzunehmen.

„Es war zwar noch etwas früh, aber deshalb hieß es ja vorglühen.“

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Sie mag kein Yoga. Leda kann „einfach nicht anders, als innerlich die spirituelle Doppelzüngigkeit der Yogalehrer zu kritisieren“. Esoterische Anwandlungen stoßen sie ab.

„Diese tiefenentspannten Bit…, dachte sie. Sie rochen sogar erleuchtet.“

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Leda registriert das Milieu im Campusschatten. Die „Main Street (bevölkern) … kleine Geschäfte … ein Biofleischer, der seinen eigenen Eiskaffee (abfüllt), eine vegane Konditorei, ein Gastropub. Dazwischen ein Restaurantrelikt des 20. Jahrhunderts, ein versprengter Wirtshaus-Dinosaurier.

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Im ersten Augenblick der Romanereignisse präpariert sich Leda für einen Halloweenrausch. Im nächsten Augenblick wacht sie mit einem Riss in der Lippe und einem Riss in ihren Erinnerungen auf.

Anna Caritj erzählt die Geschichte einer Verunsicherung auf mehreren Ebenen.

Kunstgeschichtlicher Allgemeinplatz

Im Verlauf der Filmrissnacht begegnet Leda einer Kommilitonin, die am nächsten Tag als vermisst gemeldet wird. Leda könnte die letzte neutrale Person gewesen sein, die Charlotte Mask sah - und zwar in einem Schwanenkostüm. Die Verdopplung des Leda-und-der-Schwan-Motivs gewinnt Signalcharakter. Im Original heißt der Roman auch „Leda and the Swan“.

Jahrhunderte lieferte der Leda-Mythos fragwürdige erotische Motive. Auf dem kunstgeschichtlichen Allgemeinplatz blieb ein wesentlicher Aspekt lange unbeachtet. Die affirmative Betrachtung unterschlug einen göttlichen (vulgo männlichen) Übergriff. Sie ignorierte den justiziablen Vorgang. Der als Schwan aufkreuzende Zeus verhält sich so, als sei er auf Ledas Zustimmung nicht angewiesen. Doch auch wenn man Zustimmung annimmt, welche Relevanz käme ihr zu, in Anbetracht der Täuschung im Zuge einer Verwandlung?

Leda laboriert an diesen Fragen in eigener Sache. Sehr wahrscheinlich hatte sie Sex mit Ian Gray in der Halloweennacht. Wie einvernehmlich kann der Sex gewesen sein, wenn sie sich an nichts mehr erinnert?

Die Frage quält Leda, während Charlottes Verschwinden die geschlossene Campusgesellschaft in eine Börse für Gerüchte und Spekulationen verwandelt.

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Leda gerät in einen Sog böser Ahnungen. Sie weiß nicht mehr, was sie von Ian halten soll. Zwar fühlt sie sich noch von ihm angezogen. Doch empfindet sie auch Angst.

„Ian (besucht) die A School, wobei das A für Architektur steht, ist blond, Schwimmer“. Sein Zimmer in einem Frat House, Frat wie Fraternities, nimmt Leda als Monument spartanischer Exklusivität wahr.

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„Ledas Astronomieprofessor (projiziert) Multiple Choice-Fragen auf die Leinwand. Leda und ihre Kommilitonen (heute inklusive Ian Gray, etwa 1,3 Parsec entfernt) tippen die Antworten in ihre Fernbedienung.“

Es kommt zu einer doppelbödigen Wiederannäherung. Ian wirbt weiter um Leda. Sie unterwirft jede Geste einer gründlichen, von den allerwidersprüchlichsten Empfindungen verwirrten Untersuchung. Das Stadium schierer Unbefangenheit erreicht sie nicht mehr.

...

Leda erfährt, dass Charlotte und Ian einmal ein Paar waren.

Aus der Ankündigung

Halloween - die Nacht, in der man alles und jeder sein darf. Auf dem Collegecampus bereitet man sich aufgeregt auf das wilde Treiben vor. Leda, Studentin im dritten Jahr, will eigentlich cool bleiben, aber als Ian signalisiert, sie auf einer Party treffen zu wollen, lässt sie sich in die allgemeine Aufregung mit hineinziehen. Am nächsten Morgen wacht sie mit einem Filmriss und einer tiefen Wunde an der Lippe auf. Was genau ist letzte Nacht passiert? Als dann eine Kommilitonin vermisst wird, versucht Leda obsessiv herauszufinden, wo die stecken könnte. Immer unschärfer werden ihre Motive für diese Nachforschungen: Sucht Leda noch Charlotte? Oder eigentlich sich selbst?

Zur Autorin

Anna Caritj studierte Englische und Spanische Literatur an der University of Virginia und Creative Writing an der Hollins University. Sie lebt in Südwestvirginia. ›Flüchtige Freunde‹ ist ihr erster Roman.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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