Bertolt Brecht - Unausrottbare Sehnsucht nach lascher Bourgeoisie-Bühnenerotik

#TexasText/Jamal Tuschick Bertolt Brecht, „Unsere Hoffnung heute ist die Krise“ - „Wenn Sie auf ein Auto mit einer alten Droschkenkutscherpeitsche einhauen, dann läuft es noch lange nicht.“

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„Das Theater ist uns kein Ersatzamt für nichtgehabte Erlebnisse.“ Bertolt Brecht

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„Das klassische Drama diente zur Bestätigung einer Welt, gegen die es entstanden war. Mit klassischen Versen verlobte man sich, erzog man seine Kinder, kannegiesserte und kegelte man. ‚Das ist das Los des Schönen auf der Erde‘, rief Vollbart und zwickte die Kellnerin.“ Herbert Ihering

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„Wenn Sie auf ein Auto mit einer alten Droschkenkutscherpeitsche einhauen, dann läuft es noch lange nicht.“ Bertolt Brecht zum Zustand des Theaters um 1928

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„Für wen schreiben Sie?“

„Für jene Gattung Leute, die einzig ihres Spaßes wegen kommen und nicht anstehen, im Theater ihre Hüte aufzubehalten.“ BB

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„Mittelmäßige ... verdienen nichts Besseres als Unsterblichkeit.“ Gary Shteyngart

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„Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge.“ Hölderlin

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„Den höchsten Grad seines poetischen Daseins erreicht der Philister bei einer Reise, Hochzeit, Kindtaufe, und in der Kirche. Hier werden seine kühnsten Wünsche befriedigt, und oft übertroffen.“ Hölderlin

Saturierte Genießer

In einem Rundfunkgespräch mit Richard Weichert und Alfred Kerr geißelt Brecht den Zustand des Theaters mit einem Rundumschlag.

Das legendäre Radioereignis fand am 15. April 1928 im Berliner Sendesaal der 1924 von Ernst Ludwig Voss gegründeten Deutschen Welle statt.

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„Achtung, Achtung, hier ist die Sendestelle Berlin Vox-Haus auf Welle 400 Meter. Meine Damen und Herren, wir machen Ihnen davon Mitteilung, dass am heutigen Tage der Unterhaltungsrundfunkdienst mit Verbreitung von Musikvorführungen auf drahtlos-telefonischem Wege beginnt.“ Die erste Rundfunksendung am 29. Oktober 1923

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Bertolt Brecht, „Unsere Hoffnung heute ist die Krise“, Interviews, herausgegeben von Noah Willumsen, Suhrkamp, 35,-

Das zeitgenössische Theater erleide nicht die Not einer Krise, sondern sei „seine(m) geistigen Bankerott“ erlegen. „Es ist ein flaches Bourgeoistheater, was sie da machen, eine Amüsierbude für geistig saturierte Geniesser (Originalschreibweise).“

„Wenn Sie auf ein Auto mit einer alten Droschkenkutscherpeitsche einhauen, dann läuft es noch lange nicht.“ BB

Brecht geht mit seiner Fundamentalkritik ins Detail. Die Protagonist:innen moderner Stücke seien „nur insoweit typisch … als sie den ganzen bürgerlichen Aberglauben des vorigen Jahrhunderts in typischer Weise vertreten“. Ihre Tragik erschöpfe sich in Hygieneproblemen und ließe sich mit „zivilisatorische(n) Maßnahmen“ abstellen.

Der donnernde Tonfall überlebt den Krieg.

Brecht 1948: „Was dieses Land (damals noch SBZ) braucht, sind zwanzig Jahre Ideologiezertrümmerung.“ Brecht will „ein Theater zur wissenschaftlichen Erzeugung von Skandalen“. Mit den Skandalen sollen „die Ideologien zerlegt“ werden. Das ist etwas anderes als „Hühneraugendramatik“ - Heiner Müller: „In der Bundesrepublik hätte ich nur Hühneraugen-Dramatik schreiben können.“

Es geht darum, die „Unklarheit“ des Menschen „in epischer Ruhe“ darzustellen. Brecht plädiert für „eine Art wissenschaftliche Haltung“, wie Menschen sie „im Planetarium und im Sportpalast“ einnehmen, dabei zumindest im Gestus den „ruhig betrachtende(n), wägende(n) und kontrollierende(n) … Techniker(n) und … Wissenschaftler(n)“ entsprechend.

Die Diskussion läuft unter dem Banner einer Zeitenwende. Weichert sieht das Theater den Zerreißproben eines europäischen Umbruchs ausgesetzt.

Wer denkt da nicht an Henry Millers seismografische Sentenz:

„Wie immer vor einem Kriege war die Atmosphäre fiebrig. Je kürzer der Zeitraum wurde, der uns von ihm trennte, desto verzerrter wurde alles, kleine Dinge wurden größer, das Lebenstempo beschleunigte sich.“ Henry Miller, „Ein Teufel im Paradies“

Weichert kommt Brecht entgegen. Die Einschätzungen koinzidieren:

„Das Gros will im Theater Unterhaltung - hat unausrottbare Sehnsucht nach dem bürgerlichen Theater von 1913, dem erotischen Schwank, leicht hinplätscherndem Gesellschaftsstück ohne geistige Anspannung.“

Abstieg des Dramas ins Schlafzimmer

In einer Funkdebatte mit Ernst Hardt, Herbert Ihering, Fritz Sternberg und Brecht (am 11. Januar 1929) beklagt die Runde einvernehmlich den „Abstieg des Dramas ins Schlafzimmer … (und) falsche Rettungsversuche in Paris“. Als Hoffnungsschimmer am Horizont erscheint „die Geburt des epischen Dramas aus dem europäischen Roman“.

In einem weiteren Rahmen konstatieren die Neuerer, „dass unsere Klassiker in der Praxis nur noch den Wert bewunderter Schmuckstücke (besitzen)“. Sie sind unbrauchbar für die Gegenwart.

Brecht betrachtet das bürgerliche Drama als „reine Materialgrube“. Was sich aus ihr herausholen ließe, sei lediglich der „gestische Gehalt“. Er plädiert für einen unbekümmerten Umgang mit den Kanonisierten. Brecht predigt den „Materialwerk“ und wendet sich gegen „ästhetische Finessen“.

Ihering sekundiert:

„Wenn man keine Bezeichnung für Kitsch und Krampf mehr wusste, sagte man das ist erhaben. Jeder Scharlatan und jeder Reaktionär lehnte die Ummontierung der Klassiker mit dem Wort ab, dass die Größe der Charaktere vermindert, die Größe der Form zerstört würde. In Wirklichkeit wurde in allen konservativen Aufführungen, in allen pathetischen Darstellungen diese Größe unterminiert, weil sie den menschlichen Inhalt durch eine kolossalische Form diskreditierten.“

Weitere Perlen von Herbert Ihering:

„Im Bildungszeitalter, im neunzehnten Jahrhundert galten die Klassiker als geistiges Mobiliar des gutsituierten Bürgertums. Sie waren Schmuck seiner guten Stube, gehörten zu ihm wie die Plüschmöbel, waren anwendbar und zur Hand in allen Lebenslagen. Das klassische Drama diente zur Bestätigung einer Welt, gegen die es entstanden war.“

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„Mit klassischen Versen verlobte man sich, erzog man seine Kinder, kannegiesserte und kegelte man. ‚Das ist das Los des Schönen auf der Erde‘, rief Vollbart und zwickte die Kellnerin.“

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„Man brachte es fertig, revolutionäre Werke wie ‚Räuber‘ und ‚Kabale und Liebe‘ in eine ungefährliche Ideologie umzulügen. Der Spießer entgiftete alle rebellischen Gedanken, in dem er sich mit ihnen identifizierte. Der Banause usurpierte die Revolution und konnte deshalb im Leben umso selbstzufriedener auf sie verzichten. Man plünderte den Inhalt und nutzte die Klassiker ab. Es gab keine Tradition, nur Verbrauch.“

Gestischer Gehalt- Erster Teil meiner Besprechung dieses Titels

Bis zu seinem Tod blieb Bertolt Brecht ein gefragter Mann. Das belegen nicht zuletzt jene - nun in einem Band versammelten - 91 Interviews, die der Dramatiker von 1926 bis 1956 gab. Das Zeitungsgespräch war eine junge journalistische Form, als Brecht 1926 von der „Literarischen Welt“ um eine publizistische Unterredung gebeten wurde. Zunächst sollte er dem Journalisten Frank Warschauer Rede und Antwort stand. Es kam anders. Warschauer sagte ab. Für ihn sprang - am 30. Juli 1926 - Bernard Guillemin ein.

Vor der Befragung probte Brecht in einem „hypothetischen Interview … die neue Technik“.

„Das Interview selbst: Neumodisch und rätselhaft bricht es als publizistische Zumutung in den Schriftstelleralltag hinein.“

Die Simulation mündete einem „komödiantischen Schlagabtausch“. Brecht erwog, wie er an den Fragen vorbei, Pointen für das Publikum am besten platzierte. Er fürchtete eine - dem Genre geschuldete - Banalisierung seiner Thesen.

Im Präsens von Damals

Das erste Interview gewährt Brecht dem Journalisten Raimondo Collino Pansa. Brecht äußert sich abfällig über den „Italiener“, der für eine Zeitung arbeitet, die Mussolini mit „enthusiastische(m) Konformismus“ dient. In einem Artikel stilisiert Pansa den deutschen Shootingstar zum Antipoden einer antiquierten Moderne. Er mach Brecht zum Duellgegner des renommiertesten Theatermannes Deutschlands.

Max Reinhardt steht in der Schusslinie. Pansa findet seine Inszenierungen pompös, „zwar überreich an Farben, doch nicht reich an Leben und Dynamik“.

Im Pelz stört die weibliche Bourgeoise die von Pansa besuchte Baal-Aufführung im Deutschen Theater (wo Brecht gerade Dramaturg ist) mit einem Trillerpfeifkonzert. Es kommt zum Handgemenge. Die Polizei muss einschreiten.

„Theaterschlachten“ (Carl Zuckmayer) sind en vogue.

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Regina Reicherówna trifft Brecht in einem hochgelegenen Maleratelier. Der Dramatiker tritt in „lederne(r) Aeronautenjacke“ auf. Die Journalistin skizziert eine Scherenschnittszene; Brechts Silhouette in dem „von Sonne durchflutete(n) Atelier“.

Mediterrane Hotspots

Ich springe in die Exilzeit. Ein Jahr nach der nationalsozialistischen Machtergreifung besucht der beinah mittellose Walter Benjamin den im dänischen Exil noch saturierten Brecht. Der Gastgeber tritt als Hauseigentümer in einer Idylle nahe der Hafenstadt Svendborg auf.

„Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei.“ Walter Benjamin

Brechts Stücke werden diskutiert und gespielt. Der Dramatiker bezieht Tantiemen. Mit Helene Weigel und Margarete Steffin führt er eine „Ehe zu dritt“.

„Die Welt der Kanzleien und Registraturen, der muffigen verwohnten dunklen Zimmer ist Kafkas Welt.“ Walter Benjamin

Benjamin verstimmt Brechts harsche Kritik an seinem Essay über Kafka - „Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages“. In Verkennung von Benjamins Präzision urteilt Brecht: „Die Bilder sind ja gut. Der Rest ist Geheimniskrämerei.“ Quelle

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Von April 1940 bis Mai 1941 lebt Brecht in Finnland. Wichtige Werke entstehen da. Siehe „Herr Puntila und sein Knecht Matti“, „Flüchtlingsgespräche“ und „Der Aufstieg des Arturo Ui“. Der Journalist Jarno Pennanen porträtiert den Edelexilanten für ein sozialdemokratisches Periodikum. Pennanen trifft „einen Mann … voller angestauter Kraft“ in einem vom Christlichen Verein Junger Menschen betriebenen Hospiz in Helsinki. Brecht verkündet: „Ich kann nicht sein ohne Arbeit“.

„Flüchtlingsgespräche“

„Der Pass“, so heißt es in einem fragmentarischen Ertrag des Brecht’schen Nachlasses, „ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Pass niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.“

„Man kann sagen, der Mensch ist nur der mechanische Halter eines Passes. Der Pass wird ihm in die Brusttasche gesteckt, wie die Aktienpakete in das Safe gesteckt werden, das an und für sich keinen Wert hat, aber Wertgegenstände enthält.“

Aus der Ankündigung

»Unsere Hoffnung heute ist die Krise« Interviews 1926-1956

Bertolt Brecht besaß die Gabe, wie ein Zeitgenosse einmal bemerkte, in einem »Gespräch mit präzisen, drastischen Formulierungen« zu brillieren. Wie bekämpft man die Dummheit? Ist deutsche Kultur möglich? Gehört George Orwell an die Wand gestellt? Egal welche Fragen man an Brecht hat: In diesem Buch findet man seine überraschenden Antworten. In 75 hier erstmals versammelten, größtenteils unbekannten Interviews, die sich über 15 Länder und eine ganze Karriere erstrecken, zeigt sich der große Klassiker der Moderne als wortmächtiger Medienkünstler. Sie rücken sein Werk nicht nur in ein neues Licht - sie bilden einen unkartierten Teil dieses Werkes selber.

Zum Autor

Bertolt Brecht wurde am 10. Februar 1898 in Augsburg geboren und starb am 14. August 1956 in Berlin. Von 1917 bis 1918 studierte er an der Ludwig-Maximilians-Universität München Naturwissenschaften, Medizin und Literatur. Sein Studium musste er allerdings bereits im Jahr 1918 unterbrechen, da er in einem Augsburger Lazarett als Sanitätssoldat eingesetzt wurde. Bereits während seines Studiums begann Brecht Theaterstücke zu schreiben. Ab 1922 arbeitete er als Dramaturg an den Münchener Kammerspielen. Von 1924 bis 1926 war er Regisseur an Max Reinhardts Deutschem Theater in Berlin. 1933 verließ Brecht mit seiner Familie und Freunden Berlin und flüchtete über Prag, Wien und Zürich nach Dänemark, später nach Schweden, Finnland und in die USA. Neben Dramen schrieb Brecht auch Beiträge für mehrere Emigrantenzeitschriften in Prag, Paris und Amsterdam. 1948 kehrte er aus dem Exil nach Berlin zurück, wo er bis zu seinem Tod als Autor und Regisseur tätig war.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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