Daniel Schulz - Kombattantin im Informationskrieg

#TexasText/Jamal Tuschick Daniel Schulz, „Ich höre keine Sirenen mehr. Krieg und Alltag in der Ukraine“ - Im Mai 2022 sind „dreißig Prozent aller Arbeitsplätze“ vernichtet. „Zwischen Ausnahmezustand und Alltag vergeht die Zeit und scheint doch stillzustehen.“

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„Manchmal scheint der Krieg von einer Straßenseite zur anderen gesprungen zu sein wie ein übermütiges Tier.“ Daniel Schulz über den Alltag in einem angegriffenen Land. Die Beobachtung machte der Autor im Mai 2022 in Schytomyr.

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Bereits im Mai 2022 sind „dreißig Prozent aller (ukrainischen) Arbeitsplätze“ vernichtet. „Zwischen Ausnahmezustand und Alltag vergeht die Zeit und scheint doch stillzustehen.“ Daniel Schulz

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„Auf dem Weg nach Nikolajewka fuhren wir an vielen Ruinen, zerstörten Häusern, beschossenen Wänden und Zäunen vorbei. Wir hielten an der Kreuzung in Semjonowka an. Alles um uns herum zerstört. Niemand hatte etwas aufgeräumt. Glassplitter und Müll auf der Straße und in den Ruinen. Dazwischen ein Kinderstiefel.“ Georg Genoux, Quelle

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Wolnowacha wurde in Schutt und Asche gelegt. Lassen sich Städte nicht einfach einnehmen, gehen die Usurpatoren zur kontaktlosen Kriegsführung über. Sie schießen alles zusammen, bis die Trümmerfelder so unbewohnbar sind wie der Mond.

„Kaum Lebensmittel, kein Strom und kein Wasser: Die Lage in den ukrainischen Städten Mariupol und Wolnowacha ist dramatisch. Und die von Russland verkündete Feuerpause hält nicht.“ Deutsche Welle am 05.03. 2022, Quelle

Kombattantin im Informationskrieg

Time handelt sie als „Next Generation Leader“. Das amerikanische Nachrichtmagazin widmete der ukrainischen Journalistin eine Coverstory. Siehe Time-Titel Olga Rudenko. Im Mai 2022 trifft Schulz den publizistischen Shooting Star in Kyjiw. Die Chefredakteurin der Kyiv Independent, einer Sezession der Kyiv Post, gilt als Garantin einer quellenbasierten, streitfest recherchierten Berichterstattung. Aktivistischem Haltungsjournalismus bietet ihr Periodikum kein Forum.

„Wir erlauben es uns selten, emotional zu werden.“

In einem schicken, vom Krieg stillgelegten Bezirk, setzen die Redaktionsräume eine Village-Marke. Schulz sieht sich da um, wo Rudenko am Morgen des 24. Februars Putins Angriffsankündigung zur Kenntnis nahm. Rudenko rechnete mit dem Schlimmsten. In ihrer Vorstellung erschöpfte sich das Schlimmste in erhöhtem militärischen Druck auf den ukrainischen Osten.

Daniel Schulz, „Ich höre keine Sirenen mehr. Krieg und Alltag in der Ukraine“, Reportagen, Siedler, 24,-

“And yet as Russian President Vladimir Putin declared a ‘special military operation’ in the early hours of Feb. 24, none of them could quite believe what was happening. ‘We thought they would try to take more territory in eastern Ukraine,’ says Rudenko. ‘Not that it would be a full-fledged war.’“ Olga Rudenko in Time, Quelle

Rudenko deckt Missstände auch in ukrainischen Reihen auf. Die Journalistin scheut sich nicht, Volodymyr Zelenskyy zu kritisieren. Zwar hält sie ihn unter den Ausnahmebedingungen des Krieges für einen gute Präsidenten. Trotzdem begegnet sie ihm und manchen Leuten in seiner Nähe mit Vorbehalten.

„Wir wollen natürlich, dass die Ukraine gewinnt … Aber wenn wir Propaganda verbreiten … würde die Ukraine wie Russland werden. Und dann wäre ein Sieg kein Sieg.“

Beim Vergleich mit einer - im Hinblick auf Wirkung und Stellenwert vergleichbaren - russischen Referenz, ergibt sich ein lehrreicher Gegensatz. Rudenko verkörpert jenen Universalismus, den Putin für camouflierten Partikularismus hält. Nach den geostrategischen Begriffen des Diktators verblenden die Verfechter:innen des westlichen Demokratiemodells ihren Expansionsdrang mit Moralgipsgirlanden.

In ihrem Essay „Die Erschaffung des Homo post-sovieticus: Putins Ingenieure der Seele“ beleuchtet Françoise Thom die Folgen einer Entfesselung des sowjetischen Propagandaapparats nach dessen Befreiung vom kommunistischen Ballast. Die Historikerin spricht von einer „Umerziehung (der postsowjetischen Bevölkerung) zum Schlechteren“. Die Herrschaftssprache sei längst „losgelöst von jeglichem Anspruch auf Wahrheit“. Die Eliten überböten sich in menschenverachtenden Einlassungen. Der Mitbegründer der Nationalbolschewistischen Partei Russlands Alexander Geljewitsch Dugin habe zum Genozid an der „Bastardrasse“ der Ukrainer:innen aufgerufen.

Der russische Standpunkt

„Wir machen kein Geheimnis aus der Tatsache, dass wir ein russischer Sender sind - selbstverständlich sehen wir die Welt vom russischen Standpunkt aus. Wir sind in dieser Hinsicht sehr viel ehrlicher.“ Die Starjournalistin Margarita Simonowna Simonjan, Quelle

Thom zählt Margarita Simonowna Simonjan zu den „großen (Propagandistinnen) des Putinismus“. Als Schülerin gewann Simonjan ein Amerika-Stipendium. Der Realitätscheck habe bei ihr die Fama vom Goldenen Westen zerstört. Gleichzeitig lernte Simonjan die Unabhängigkeitserklärung auswendig.

Simonjans, 2022 verstorbener Kollege Wladimir Wolfowitsch Schirinowski, von Thom als „Populismusvirtuose“ charakterisiert, erklärte die ukrainische Bevölkerungszusammensetzung so:

„Es gibt dort zwei verschiedene Völker. Auf der einen Seite die Russen und russifizierte Ukrainer, auf der anderen die Westler, die in den zu Österreich-Ungarn gehörenden Gebieten gelebt haben.“

Aus der Ankündigung

In der Ukraine herrscht Krieg. Nicht erst seit dem Februar 2022, sondern seit 2014. Denn schon damals fielen sogenannte grüne Männchen, verdeckt operierende russische Soldaten, in den Donbass ein und begannen einen Zermürbungskrieg zur Abspaltung der Ostukraine. Ohne diesen verlustreichen Dauerkonflikt, der in Europa jahrelang kaum wahrgenommen wurde, lässt sich der Kriegsverlauf, lassen sich die Reaktionen der Bevölkerung und die für viele Beobachter überraschend gut organisierte und schlagkräftige Gegenwehr der ukrainischen Armee gegen die russischen Invasoren nicht verstehen. Der preisgekrönte Reporter Daniel Schulz verfügt über vielfältige Kontakte in das Land, über das er seit vielen Jahren schreibt und in dem er selbst als Journalist gearbeitet hat. In seinen Texten begleitet er Menschen, die bereits seit Jahren mit dem Krieg im eigenen Land leben: Zivilist:innen, Soldat:innen, Student:innen und Künstler:innen, die sich im Widerstand organisieren und für eine freie und demokratische Ukraine kämpfen. Dabei fragt Daniel Schulz, was der militärische Konflikt, der schon Jahre währt und sich wohl noch lange hinziehen wird, mit den Menschen in der Ukraine macht - denen, die kämpfen, denen, die ausharren und denen, die flüchten.

Zum Autor

Daniel Schulz, 1979 in Potsdam geboren, berichtet für das Ressort Reportage bei der taz. Er studierte in Leipzig und arbeitete für verschiedene Zeitungen in Ostdeutschland sowie das Berliner Magazin zitty, bevor er sich bei der taz vor allem den Themen Rechtsextremismus, Ostdeutschland und Ukraine widmete. Dort war er gemeinsam mit einem Team von Redakteur*innen maßgeblich u.a. an der Aufdeckung des Hannibal-Netzwerks beteiligt, einer Gruppe rechtsextremer Personen in- und außerhalb der Bundeswehr. 2018 arbeitete Daniel Schulz für die ukrainische Zeitung Kyiv Post und erhielt im selben Jahr den Reporterpreis sowie 2019 den Theodor-Wolff-Preis. 2022 erschien sein vielbeachteter Roman »Wir waren wie Brüder«.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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