Das Buch als prekäre Heimstatt

#TexasText/Jamal Tuschick Michael Wolffsohn, „Eine andere Jüdische Weltgeschichte“ - „Das portative Vaterland“ (Heinrich Heine) koinzidierte mit Formeln der inneren Einkehr im Zug einer erzwungenen Abkehr von der Monumentalität des sakralen Mauerwerks ...

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Sehen Sie ferner https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4378

Salonzionismus

Die dreitausendjährige Geschichte der Jüdinnen und Juden verankert sich geografisch in Israel über einen Zeitraum von elfhundert Jahren. Das erklärt Michael Wolffsohn in seiner Übersicht „Eine andere Jüdische Weltgeschichte“.

*

Ein Perser entließ die Jüdinnen und Juden aus der von Nebukadnezar II. 597 vor der christlichen Zeitrechnung erzwungenen babylonischen Knechtschaft. Um 539 v. u. Z. erteilte Kyros II. „die Erlaubnis, nach Zion zurückzukehren“. Schon damals gab es Salonzionistinnen und Edel-Exilantinnen, die so Michael Wolffsohn, auf das Wort mehr gaben als auf die Tat. Die antiken Diaspora-Akteure suchten (unter veränderten politischen Vorzeichen) ihre Chancen weiter im mesopotamischen Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris. Sie reüssierten im Achämenidenreich.

Michael Wolffsohn, „Eine andere Jüdische Weltgeschichte“, Herder Verlag, 364 Seiten, 28,-

Wolffsohn bemerkt an dieser Stelle bereits „den innerjüdischen Riss zwischen Universalisten und Partikularisten“.

Ein sagenhafter imperialer Expansionsdrive sorgte für die größte Ausdehnung, die ein Annexionskonglomerat jemals erreichte. Nach einer Schätzung befand sich fast die Hälfte der Menschheit - als Unterworfene der Achämeniden-Dynastie - in einem universell begriffenen Hörigkeitsverhältnis. Denkt man diese Totalität mit den damaligen Möglichkeiten der Kontrolle zusammen, erkennt man, dass persönliche Freiheit einer komplizierten Formel zugrunde liegt.

Wolffsohn vergleicht die jüdische Theokratie mit dem „iranischen Mullahregime“. Er erklärt, warum die extreme Orthodoxie in der dritten (aktuellen) israelischen Staatsgründung eine „Gotteslästerung“ zu erkennen vermag. Der Mensch habe sein Schicksal Gott aus der Hand genommen. Daraus leiten Extreme den Schluss ab: „Zionismus ist Blasphemie.“

Erst die Ankunft des Messias „erlaube (ihnen) die Neugründung eines jüdischen Staates“.

Die Zerstörung der Tempel

Das religiöse Zentrum des eisenzeitlichen Königreichs Jehūdāh war der 965 v. u. Z. auf dem höchsten Punkt Jerusalems (auf der Spitze der Stadt) erbaute Salomonische Tempel. Mit seiner Zerstörung 587/586 v. u. Z. ging die Deportation eines Bevölkerungsgroßteils nach Babylon einher. Nach der Rückkehr aus dem Exil um 515 v. u. Z. entstand der Herodianische Tempel zuerst unter der Ägide von Serubbabel. Der von Kyros eingesetzte Statthalter war der letzte israelische Staatschef aus dem Haus David. Im Neuen Testament erscheint Serubbabel als Jesu von Nazareths Ahnherr. Auf ihn richteten sich bereits messianische Erwartungen.

Im Jahr 70 u. Z. zerlegten römische Usurpatoren die Glaubensburg. So nahmen sie der Tempelaristokratie den architektonischen Rahmen ihrer Distinktion. Das leitete einen Bedeutungsschwund der alten Elite ein, mit gravierenden Folgen für die soziale und politische Ordnung. Eine „rabbinisch-synagogale ‚Bourgeoisie‘“ trat auf den Plan und etablierte sich in Konkurrenz zu den traditionellen Exegeten.

Michael Wolffsohn registriert an dieser historischen, aber eben auch topografischen Stelle das Ende einer Standesgesellschaft.

„Leistung und nicht mehr durch Geburt bestimmte Vorrechte entscheiden (fortan) über Auf- und Abstieg des Einzelnen.“

Der Autor zieht den Prozess in die Klammer einer bürgerlichen Gesellschaft beinah zweitausend Jahre vor der Französischen Revolution.

Tragbare Heimat

Der „jüdische Zusammenhalt“ braucht(e) einen sakralen Raum. Die Bedrohungen, denen sich Juden als religiös selbstbestimmte Minderheit in der polytheistisch-römischen Herrschaftssphäre ausgesetzt sahen, legten die Entwicklung mobiler Formate (für eine nomadische Praxis) nah. Wolffsohn beschreibt die Notwendigkeit einer „portativen, (sprich) tragbaren Heimat“.

„Das portative Vaterland“ (Heinrich Heine) koinzidierte mit Formeln der inneren Einkehr im Zug einer erzwungenen Abkehr von der Monumentalität des sakralen Mauerwerks. Nach dem Verlust der Tempelgravitation trat, so Wolffsohn, das Wort an die Stelle der Tat. Man substituierte aufwändige Gottesdienstleistungen. Der Talmud lieferte als Erläuterungs- und Ermutigungsgrundlage eine Voraussetzung für den Export.

„Die Dopplung von (kleinen) Synagogen und dem religiösen Wort verwandelte die einst … (lokal gebundene) … auf judäische ‚Vaterland‘ bezogene … Religion in einen global ‚anwendbare‘ Religion.“

Auf Dauer gestellte Erinnerungen

In seinem Nachruf auf Marcel Reich-Ranicki ordnete Rainer Metzger 2013 das „portative Vaterland“ dem gerade Verstorbenen als Wortschöpfung zu, und deutete es an allen historisch-triftigen Deutungen vorbei.

„Sein Patriotismus nämlich, und das ist einer seiner schönsten Begriffe, galt allein dem ‚portativen Vaterland‘, das man in Gestalt der deutschen Literatur bei sich tragen konnte. Quelle

*

„Mit der Schrift aber - so der französische, algerische und jüdische Philosoph Jacques Derrida - veränderte sich das Wesen der menschlichen Kultur grundlegend. Erinnerung wurde jetzt auf Dauer gestellt.“ Micha Brumlik, Quelle

Das Buch als prekäre Heimstatt

„Sogar G-tt lebt seitdem in der Halacha, in der Schrift, ‚in jener prekären Heimstatt‘ wie Emmanuel Levinas sie nannte.“ Zitiert nach Liliana Ruth Feierstein.

Die Kulturwissenschaftlerin greift das Wort vom „Portativen Vaterland“ hier auf. Sie ergänzt es mit der Unterzeile „Das Buch als Territorium“ und versieht den Zusatz mit einem Hinweis auf Walter Benjamin, der sich, nach einer jüdischen Gedächtnistradition, mit der Absicht trug, lauter Zitate zu einem Buch zusammenzutragen. Dazu Bernd Witte: „Jüdische Tradition und literarische Moderne. Heine, Buber, Kafka, Benjamin“.

Erinnerungspraxis

Feierstein nennt die Tempelzerstörung im Jahr 70 der christlichen Zeitrechnung „eine offene Wunde im kulturellen Gedächtnis des Judentums“. Es gab/gibt ein Gebot, sich zu erinnern. Die einschlägige Praxis ließ „ein neues Konzept des Judentums (entstehen). Rabbi Jochanan ben Sakkai bat den römischen Kaiser, in Javne* eine Schule für das Studium der Thora eröffnen zu dürfen, die niemals geschlossen werden sollte, nicht einmal für den Wiederaufbau des Tempels. Sigmund Freud erkannte die Bedeutung dieser Geste: Seitdem, so schrieb er einmal, konnte das unsichtbare Gebäude erbaut werden. Das Buch anstelle eines Territoriums: Von diesem Moment an begann das jüdische Volk in der Schrift zu leben.“

Denken Sie an die Synode von Javne gleich nach dem Tempelschleif. In Javne brachen Schriftgelehrte so radikal wie epochal mit dem Judenchristentum, obwohl Judenchristen die Mehrheitsgesellschaft bildeten.

Heute liegt Javne zwanzig Kilometer südlich von Tel Aviv. 2002 streichelten da Archäologinnen unter der Leitung von Raz Kletter Kultsachen aus dem 3. Jahrtausend (nach jüdischer Zeitrechnung) aus der Erde.

Aus der Ankündigung

Fakten statt Ideologien!

Michael Wolffsohn, der Meister der deutsch-jüdischen Geschichtsschreibung, erzählt die Historie der Juden von den Anfängen bis heute. Präzise, vielschichtig und spannend berichtet er von einem Volk und einer Religion, die Weltgeschichte und Weltkultur prägen. Er beleuchtet die Theologie ebenso wie die Geografie jüdischer Geschichte. Er stellt zentrale Persönlichkeiten vor und schreibt über jüdische Kultur und Wirtschaft sowie jüdisches Sozialleben – auch in der islamischen Welt. So entsteht eine Universalgeschichte des Judentums aus der Feder eines großen Kenners und Erzählers, die Schulweisheiten entkräftet und antisemitische Ideologien durch Fakten entlarvt.

Michael Wolffsohns Ziel: unterhaltsam und fundiert neue Einsichten und Zusammenhänge vermitteln, Informationen statt Moralpredigten transportieren und alte Vorurteile unaufgeregt widerlegen. Eine allgemeinverständliche Einführung, die Lust auf mehr Wissen über Juden und Judentum macht.

Zum Autor

Michael Wolffsohn, Prof. Dr., geb. 1947, Historiker und Publizist, 1981 bis 2012 als Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München, hat zahlreiche Bücher, Aufsätze und Fachartikel verfasst und ist publizistisch und als vielbeachteter Vortragsredner tätig. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, der Deutsche Hochschulverband kürte Michael Wolffsohn 2017 zum Hochschullehrer des Jahres; 2018 Franz-Werfel-Menschenrechtspreis der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden