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„Es war ein Twist im Schlangennest der Familienbeziehungen.“ Hans Mayer über den Bruch Frédéric Chopins mit George Sand.

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„Am Abend hatte ich zehn Verse gemacht und eine Flasche Schnaps getrunken; sie (George Sand) hatte einen Liter Milch getrunken und ein halbes Buch geschrieben.“ Alfred de Musset

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„Herr Oberhofrath Völkel, dem die Direction des Museums und der kurfürstlichen Bibliothek übertragen ist, so wie die dabei angestellten Herrn Gebrüder Grimm, sind ausgezeichnete Literatoren, die den Fremden mit größter Gefälligkeit zuvor kommen“. Aus einer „Skizze für Reisende“ aus dem Jahr 1825, erschienen in der Kriegerischen Buchhandlung

Parfümierter Nonsens

An einem Morgen im Jahr der Hamburger Flut sah ich Brigitte zum ersten Mal nackt. Ich war zwölf, mein Vater wohnte unter der Woche in Wiesbaden, Brigitte und ich hatten den Vorabend nicht nur gemeinsam, sondern auch einträchtig verbracht. Ich hatte mich einmal wieder über ihr Interesse an mir gewundert. Nun kam ich an ihrem Schlafzimmer vorbei, Brigitte stand vor dem Schrankspiegel. Ich überhörte einen Scherz, schwänzte das Frühstück und tauchte erst am Nachmittag wieder auf. Brigitte war nicht da. Als ich sie am nächsten Morgen in der Küche traf, fand ich sie nicht so munter wie sonst. Ich hatte mich der zweiten Frau meines Vaters gegenüber nie ablehnend verhalten. Meine vage Zugänglichkeit wurde belohnt. Brigitte war fünfzehn Jahre jünger als ihr Mann. Sie verstand die Wünsche eines Heranwachsenden besser als mein Vater. Gemeinsam lachten wir über seine Imitationen der Landtagskollegen.

Brigitte wollte, dass ich von meinen Freundinnen erzählte. Sie nistete sich als Beraterin ein. Zum Spaß nannte sie mich den jungen Ritter Speer zu Schauenburg. Es gefiel ihr, mit mir gemeinsam meine Familiengeschichte zu erforschen, die Vergangenheit fabulierend aufzuwühlen. Ich fuhr mit ihr zu Verwandten nach Kassel. Für diese Leute war es selbstverständlich, dass ich zu ihnen aufschloss. Ich wurde regelrecht unterrichtet in Familiengeschichte.

Man legte mir restaurierte Folianten vor, schlug für mich in kurfürstlichen Hof- und Staats-Handbüchern nach. In einer „Skizze für Reisende“ aus dem Jahr 1825, (erschienen in der Kriegerischen Buchhandlung) entdeckte ich die Bemerkung: „Herr Oberhofrath Völkel, dem die Direction des Museums und der kurfürstlichen Bibliothek übertragen ist, so wie die dabei angestellten Herrn Gebrüder Grimm, sind ausgezeichnete Literatoren, die den Fremden mit größter Gefälligkeit zuvor kommen“.

Die Kasseler Schauenburgs (Schauenburg-Pechstein, Schauenburg-Zierenberg) lebten mit der Idee einer außerordentlichen Herkunft. Ihr Hochmut und ihr Einfallsreichtum überforderten mich. Sie kannten die Straßennamen, die zu Residenzstadtzeiten amtlich waren. Sie erhoben sich über die plebiszitäre Gegenwart.

Sie waren im kurhessischen Münzwesen bewandert. Sie schenkten mir einen Schild-Louisdor (Caroline), der in Handel einst höher im Kurs gestanden hatte als in den lokalen Regierungskassen. Der schlichte Louisdor hieß Pistole, es gab einen Laubthaler. Meine Cousinen und Cousins kultivierten eine Menge Anachronismen, sie kehrten ihr Erbe demonstrativ-konservativ nach außen. Ihre Eltern, meine Tanten und Onkel, gaben dem Frankfurter Neffen zu verstehen, dass er in ihren Häusern so willkommen sei wie der leibeigene Nachwuchs.

Man riet mir zur Durchsicht einer Darstellung karolinischer Forstpolitik. Mein Familienname tauchte aus dem neunten Jahrhundert auf.

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„Die Art in den althessischen Gebieten war beharrend, zurückhaltend, abweisend“. Karl Demandt in seiner „Geschichte des Landes Hessen“

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„Ein Kerl, der in Kassel in die Eisen geht.“ Gefunden bei Johann Gottfried Seume, der von seiner Verschleppung nach Amerika berichtete.

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„Nie sah ich mehr arme Teufel durch die Gasse jagen als einst zu Cassel.“ Carl Julius Weber

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Vater fasste den Familiensinn satirisch auf. Er war nicht bereit, „in die Klamottenkiste zu greifen“. Für ihn waren die Kasseler Erzählungen „parfümierter Nonsens“. Er hatte den Hinweis auf seine nobilitierte Herkunft gestrichen. Ihm erschien, was mir so gut gefiel, bloß als „Kommisskuriosa“, „Familienmilitarismus“, „Minette-Gesänge“ und „Teichmann‘sche Arien“. Um das zu verstehen, muss man Folgendes wissen: Der hessische Kurfürst Friedrich Wilhelm I. führte eine Ehe zur linken Hand mit Gertrude geb. Lehmann, erhoben zur Fürstin von Hanau und Gräfin von Schaumburg. Aus dieser Verbindung gingen neun Kinder hervor. Der 1836 geborene, wegen der morganatischen Ehe seiner Eltern nicht nachfolgefähige Wilhelm zeugte als Leutnant im Leibgarde-Regiment 1865 unehelich eine Tochter mit einer Garderobenjungfer seiner Mutter. Die doppelt Illegitime hieß Minette Teichmann. (Ein Porträt von ihr hängt in der Neuen Galerie.) Verheiratet wurde sie mit Albert Speer zu Schauenburg-Pechstein. Das waren meine Urgroßeltern. Mein Vater strapazierte jahrelang sein Sitzfleisch im Hessischen Landtag. Im Jahr der Verabschiedung des Godesberger Abkommens war seine Frau nur noch politisch mit ihm einer Meinung. Das Paar trennte sich. Meine Mutter, eine Kunsthistorikerin mit archäologischen Neigungen, brach zu neuen Ufern auf. Während mein Vater den linken Flügel seiner Partei möblierte, dachte ich mir Geschichten aus, in denen ich in der Welt meiner adligen Ahnen lebte.

„Die Vergangenheit ruft bei dir an“, sagte Brigitte gern. Sie stammte „aus unerheblichen Verhältnissen“. Sie träumte mit mir einen Kostümfilm. Dann drehte sich das Rad und ich besprach mit meinem Vater die unselige Wiederbewaffnung im Club Voltaire.

Karina war nicht meine erste Freundin, sie ließ nur ihre Vorgängerinnen verblassen. Wir begegneten uns zuerst als Diebe in der Kohl‘schen Buchhandlung. Nicht entgangen war uns, was sonst keiner mitkriegte. Wir sprachen uns auf der Hauptwache an. Zu der Zeit las Karina „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, und ich schrieb einen Aufsatz über „Ulysses“, dem ich einen Satz von Joyce voranstellte, der für Nora bestimmt war:

„Die gegenwärtigen Schwierigkeiten meines Lebens sind ungeheuerlich, aber ich verachte sie.“

Ich glaubte, den Mitschülern Joyce ans Herz legen zu können. Unter den Kursteilnehmern waren herausragende Köpfe. Einer paukte im Unterricht nebenbei Japanisch, er stieg bis in den Vorstand einer Bank auf. Einer sollte das beste Abitur unseres Jahrgangs ablegen. Diese Konzentration erklärte sich im Charakter des promovierten Herrn Laue, der von allen Lauen gemieden wurde. Dass er eine Tochter in meinem Alter hatte, kriegte ich erst mit, als Karina ihren Familiennamen preisgab: zwei Tage nach unserer ersten Begegnung, unmittelbar vor einer Lesung in der Schillerschule. Wir hockten auf Klappstühlen, fiebrig von Erstmaligkeitsempfindungen. Karina erzählte, dass ihr Vater über mich in seinem Wohnzimmer Worte der Anerkennung fand. Damit hatte ich nicht gerechnet. Laue unterrichtete mich in Englisch und Sport. Ich hatte mich mit ihm auf Wanderungen und Klassenfahrten unterhalten. Zu seiner Enttäuschung war aus mir kein Ruderer geworden. Laue zog Jungen an, die nicht einfach so sein konnten wie die meisten. In diesem Kreis ließ ich mich über die Vulgarität Leopold Blooms aus. Ich nannte ihn einen Impotenten aus Bequemlichkeit. Mit dem Satz hatte ich bei Karina im Günthersburgpark Eindruck zu schwinden versucht. Sie nannte ihren Vater „den Doktor“. Mich sprach sie mit dem Namen meiner Familie an. „Ach, Schauenburg, du übertreibst“. Heute sehe ich das Altkluge, Erlesenheitssüchtige und Feuerzangenmädchenhafte ihres Wesens, mit fünfzehn hatte Karina der Welt einen Stil entgegenzusetzen. Ab und zu rauchte sie eine Zigarette, das sah sehr schön aus. Sie trank mit mir Apfelwein im Gemalten Haus und fand es auch um elf noch nicht nötig, heimzugehen. Kein Wort verlor sie über den Ärger mit ihrem Vater. Da wusste er noch nichts von unserer Verbindung. Sie hatte es überhaupt nicht eilig, sich zu erklären, während ich unsere Heimlichkeit für einen Vertrauensbruch hielt. „Sei nicht albern“, sagte sie, „du kannst den Doktor gar nicht hintergehen, und ob ich ihn hintergehe oder nicht, ist mein Bier.“

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Wir kamen darauf vor ein paar Jahren noch einmal ausführlich zu sprechen, Karina erinnerte sich so gut wie ich an meine Skrupel und ihre Bedenkenlosigkeit. Sie ist schon lange nicht mehr so selbstsicher wie in ihrer Mädchenblüte. Wer sie nicht kennt, hält Karina bestimmt für herb aus Verbitterung. Sie hat zwei Kinder großgezogen, beide fahler Durchschnitt, und zwei Männer an jüngere Frauen verloren. Nimmt man den schieren Vollzug zum Maßstab, dann betrog ich Karina zwei Tage nach meinem siebzehnten Geburtstag zum ersten Mal mit Brigitte. Mein Vater war am Morgen abgereist, ich hatte es mir auf dem Sofa in seinem Arbeitszimmer bequem gemacht. Brigitte hatte ihre Füße neben meinem Kopf auf der Lehne platziert. Solche Arrangements ergaben sich in unserem häuslichen Spiel. Zu den Signalen der Zuneigung gehörten seit Jahren phantasievoll herbeigeführte Berührungen. Doch erst an diesem Abend brach der Damm. Ich rollte auf den Bauch und zog Brigitte zu meiner eigenen Überraschung von ihrem Platz. Im nächsten Augenblick lagen wir auf dem Teppich.

„Und jetzt?“ fragte Brigitte spöttisch.

Sie schob meine Hände nicht weg.

„Ich möchte dich nicht unglücklich sehen“, sagte sie.

Ich war schon nicht mehr jung genug, um ganz und gar nicht zu verstehen, was Brigitte meinte. Sie war mein Leitstern. Sie wusste, dass ich ständig an sie dachte. Dafür hatte sie gesorgt, mit lauter kleinen Manövern, die vermutlich auch meinem Vater nicht entgangen waren. Bis heute verstehe ich seine Zurückhaltung nicht. Unser Verhältnis war nie so, dass wir die Frage klären konnten.

Mit dem Abstand von Jahrzehnten leuchtet mir Brigittes Doppelspiel ein. Sie war in mich verliebt. Ich war von ihr hingerissen und stand ihren Träumen nah. Wir erlagen einander, kurz nach dem Geplänkel auf dem Teppich.

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Außerdem betrog ich Karina mit meiner stillsten Trainingspartnerin. Ich besuchte Aurora manchmal nach der Schule, in der Wohnung wallten theatervorhangschwere Stoffe. Es gab Büsten, eine Kerzenhalterkollektion, einen Kronleuchter und jede Menge Spinngewebe.

Brigitte war auf Aurora eifersüchtiger als auf Karina. Sie verrannte sich in Erklärungen, die nichts erklärten. Auroras Bereitschaft, mir nachmittags die Tür zu öffnen, um mir dann - unter Stuck und durch Staub zu ihrem Zimmer - voranzugehen, während ihre Mutter mit The Moody Blues eine Nebelwelt hinter verschlossenen Türen vermuten ließ, ergab sich aus nichts Greifbarem.

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War ich so dumm, zu glauben, dass meinem Vater die Veränderungen in seiner Familie entgingen? Er verbrachte noch mehr Zeit in seiner Wiesbadener Wohnung. War er doch einmal zwei, drei Tage in Frankfurt, kriegte ich einen Rappel.

Als Brandt zurücktrat, folgte er einem akademischen Ruf. Irgendwann schien sich alles wieder eingerenkt zu haben, um gleich darauf auseinanderzubrechen. Im nächsten Durchgang war Brigitte in Vaters Leben so abwesend als wäre sie nie bei ihm an Bord gewesen. Vaters nächste Frau war beinah dreißig Jahre jünger. Ich fand das beschämender als er; aus dem sicheren Abstand meiner Studentenbleibe.

In seinen letzten Lebensjahren Anfang der 1990er Jahre bemühte mein Vater stets gähnende Allgemeinplätze, wenn unser Gespräch „die alte Sache“ streifte. Vielleicht sollte ich mir ein Beispiel an seiner Diskretion nehmen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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