Esoterische Freiübungen

#TexasText/Jamal Tuschick Turn effort into desire. © Jamal Tuschick

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“Water doesn’t stop.” Sifu Sunny So, Quelle

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“Never fight incoming force. Follow the blow-direction. Turn blow into flow.” Cole von Pechstein

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Turn effort into desire. © Jamal Tuschick

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“To hell with circumstances. I create opportunities.” Bruce Lee

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“I cannot teach you, only help you to explore yourself.” Bruce Lee

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“If you want a happy ending, that depends, of course, on where you stop your story.” Orson Welles

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... zwischen Weltrevolution, gesunder Ernährung, Che-Guevara -Verehrung, esoterischen Freiübungen und Hava Nagila

Iris Leise bekannte sich zum Christentum ihres evangelischen Vaters. Ihre Mutter Margarete entstammte einem Klan Kasseler Katholik:innen*. Das waren gemeinsam mit Landgraf Friedrich II. (1720 - 1785) in einem protestantischen Kernland zum Katholizismus konvertierte Hugenotten. Was für eine bizarre Volte. Die durch das von Ludwig XIV. 1685 dekretierte Edikt von Fontainebleau um ihre Places de sûreté protestantes gebrachten, im Galopp auf die rechtsrheinische Seite geflohenen Calvinist:innen* wechselten ihre Religion unter der Ägide des einzigen hessischen Fürsten, der seit der Reformation katholisch zu sein beliebte. Dieser Irrsinn sorgte noch in den 1970er Jahre dafür, dass Margarete einen schweren Stand in ihrer eigenen Familie hatte.

Iris erklärte sich selbstverständlich im Geist der kämpfenden Kirche Lateinamerikas. Der Reigen vollzog sich zwischen Weltrevolution, gesunder Ernährung, Che-Guevara -Verehrung, esoterischen Freiübungen und Hava Nagila. Was haben wir Hava Nagila gesungen. Wie oft bin ich weggeschickt worden, weil Iris ihren Schönheitsschlaf brauchte.

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“I intercept your emotional tensions. From your thought to your fist: how much time was lost.” Bruce Lee

Mit meiner Großcousine Lisbeth spielte ich Bruce-Lee-Szenen nach, deren Klassikerstatus noch in den Sternen stand.

Ob die Filme als cineastische und TV-B-Ware gehandelt wurden?

Ich weiß es nicht. Damals gab es solche Kategorien für mich nicht. Vollkommen feuilletonfern las ich Bücher von Simmel, Will Heinrich, Böll, Grass, Walser, Joyce, Thomas Wolfe, Dostojewski, Flaubert, Steinbeck und Hemingway wie einen einzigen Reader’s Digest-Fortsetzungsroman, und genauso unkritisch-verschlingend sah ich Filme.

Im Haushalt von Lisbeths Eltern stand der erste JVC HR-3300, den ich zu sehen bekam. Vermutlich war das der erste Videorekorder in Kassel.

JVC wie Nihon bikutā kabushiki kaisha aka Japan Victor Company.

Lisbeth und ich pickten uns die Bruce-Lee-Rosinen aus der amerikanischen Detektiv-Serie Longstreet, die nach einem Produktionsjahr 1972 wieder eingestellt worden war. James Franciscus spielte den Titelhelden Mike Longstreet. Der blinde Insurance Investigator bittet den Antiquitätenhändler und Jeet Kune Do-Meister Li Tsung um Kampfkunstunterricht. Bruce Lee hält Longstreet entgegen:

“I cannot teach you, only help you to explore yourself.”

Einem Gast im Haus Longstreet erklärt er Jeet Kune Do als way of the intercepting fist. Der Mann versucht sein Glück bei Li Tsung mit einem Jab. Der junge Meister weist ihn mühelos in die Schranken

“I intercept your emotional tensions. From your thought to your fist: how much time was lost.”

Vielleicht versteht sich das von selbst. Dass ich nicht Longstreet verkörperte. Lisbeth und ich übten außerdem Shizen-Tai -自然体 - Karategrundstellungen. Lisbeth war die Tochter von Oma Hedwigs Bruder. Es spricht für den Familienzusammenhalt, dass man sich kannte. Der Großonkel hieß Ludwig. Er war Ingenieur und Erfinder. Ein Spitzenmann in seinem Unternehmen, das transatlantisch Kolossalbauten hochzog. Ludwig hatte seinen Posten so sicher wie ein Beamter. Im Keller seines Hauses war ein Sportraum mit Schwimmbad. Man konnte verkürzte Kurzstreckenbahnen ziehen und mit Kurzhanteln keulen. Ich fand den fitten Halbgreis Ludwig albern. Die Abweichung von der normalen Trägheit wirkte sogar abstoßend. Zudem fuhr Ludwig Porsche. Das wurde ihm als maßlose Extravaganz in Rechnung gestellt. Da es keine Beispiele für Ludwigs Lebenswandel gab, erschien er mir zumindest nicht klischeehaft. Ludwig antizipierte die High-Life-Individualität, die mir heute so gut gefällt. Ein weiterer Extremist meiner Familie war mit fünfzig nach Kanada ausgewandert und da ohne Vorbildung Trainer der Eishockeynationalmannschaft geworden.

Das waren die Ausnahmen von der Regel. Da konnte man nur staunen.

Ludwig hätte richtig reich sein können, erklärte mir mein Vater, hatte aber nur genug Kapital aus seinen Talenten geschlagen, um ein gutes Leben zu haben. Da war sie wieder: die Lebensqualität als Hauptmaxime der SPD. Mein Vater verband sie gern mit dem ominösen Spruch Man kann sich täglich nur einmal sattessen, so wie mit der kongenialen Formulierung Das letzte Hemd hat keine Tasche wahlweise Du kannst nichts mitnehmen.

Er sprach in jungen Jahren von Ausbeuter:innen* und Arbeiterverräter:innen*, hat aber bis in die akute Gegenwart, ja, der Mann lebt noch, nichts gegen einfache Millionäre, die aus eigener Kraft zu ihrem Vermögen gekommen sind.

Ein um Schwung in allen Lebenslagen bemühter Pensionär mit Porsche flößte mir trotzdem kein Vertrauen ein. Ludwig war mit über Fünfzig noch einmal Vater geworden, und als ich von seiner Jüngsten zum ersten Mal zu einer als Mittagsschläfchen getarnten Kuschelrunde herangezogen wurde, waren wir beide noch Vorschulkinder.

Meister der Macht

Lisbeth war meine erste Gesprächspartnerin, die ein Interesse an fremden Geschlechtsteilen zugab.

Wir nutzten Ludwigs Kraftraumnasszelle.

Lisbeth schleuste Freund:innen* ein. In den letzten zwei, drei Jahren vor meiner Illumination bewegten sich in diesem Kreis die Polizistensöhne Roland und Klaus. In Ludwigs Reich trafen sich Adept:innen* des SPD-Apachen, jungsozialistischen Urgesteins und Kraftgottes Holger Kühne. Das war einer, der Kunst und Politik machte, und sich wie kein Zweiter im Wald auskannte. Liegestütze nur auf den Daumen. Holger gab vielen Heranwachsenden eine Zuversicht, die ihre Eltern ihnen nicht geben konnten. Vermutlich war er als Projektionsfläche und Pädagoge besser als in jedem anderen Fach. Er konspirierte, agitierte, begeisterte und verführte wie am Fließband Gymnasiastinnen.

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In meiner Jugend schloss sich, vereinzelter Gegenbeispiele zum Trotz, Reichtum und Linkssein aus. Die Reichen waren rechts. Gewöhnlich blieben sie unerreichbar in ihren Kreisen. Besonders paradox lagen die elternhäuslichen Verhältnisse bei Iris Leise. Der Vater war ein Großbürger wie aus dem Bilderbuch. Er stammte aus einer Göttinger Familie, und so wie das gesagt wurde, klang es, als sei vom Haus Hannover und den Welfen die Rede, von niedersächsischem Adel mit Ansprüchen auf Kaiserwürden. Heinrich Leise liebte Palästinenser:innen*. Er ordnete die Wege ihrer akademischen Hoffnungsträger:innen* in Deutschland auf eine sehr persönliche Weise. Leise war Holger Börners Ben Witsch, und Iris war eine Ikone der jungen arabischen Israelis.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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