Eva Weissweiler - Quiet Days in Sanremo

#TexasText/Jamal Tuschick Eva Weissweiler, „Villa Verde oder das Hotel in Sanremo. Das italienische Exil der Familie Benjamin“ - Zu Benjamins Unbehagen in Doras Hotel trägt die Anwesenheit eines (Ex-?) Geliebten der Gastgeberin bei. Lothar Brieger, ein ...

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„Mit der Schrift aber - so der französische, algerische und jüdische Philosoph Jacques Derrida - veränderte sich das Wesen der menschlichen Kultur grundlegend. Erinnerung wurde jetzt auf Dauer gestellt.“ Micha Brumlik, Quelle

Das Buch als prekäre Heimstatt

„Sogar G-tt lebt seitdem in der Halacha, in der Schrift, ‚in jener prekären Heimstatt‘ wie Emmanuel Levinas sie nannte.“ Zitiert nach Liliana Ruth Feierstein.

Die Kulturwissenschaftlerin greift das Wort vom „Portativen Vaterland“ hier auf. Sie ergänzt es mit der Unterzeile „Das Buch als Territorium“ und versieht den Zusatz mit einem Hinweis auf Walter Benjamin, der sich, nach einer jüdischen Gedächtnistradition, mit der Absicht trug, lauter Zitate zu einem Buch zusammenzutragen. Dazu Bernd Witte: „Jüdische Tradition und literarische Moderne. Heine, Buber, Kafka, Benjamin.“

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„Der Hauptzweck der bürgerlichen Gesellschaft ist die Verdrängung des Todes.“ Walter Benjamin

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„Wie einer, der am Reck die Riesenwelle schlägt, so schlägt man selber als Junge das Glücksrad, aus dem dann früher oder später das große Los fällt.“ Walter Benjamin

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„In (Walt Disneys) Filmen bereitet sich die Menschheit darauf vor, die Zivilisation zu überleben.“ Walter Benjamin

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Zu Walter Benjamins Unbehagen in Doras Hotel trägt die ausdauernde Anwesenheit eines (Ex-?) Geliebten der Gastgeberin bei. Lothar Brieger, ein, so Gershom Scholem, „bequemer … und jovialer Typ, hält sich ein Jahr in der Villa Verde und noch länger in Sanremo auf. Brieger diente Auguste Rodin als Sekretär; Scholems Urteil nennt Weissweiler „völlig neben der Sache“. Tatsächlich sei Brieger „ein manisch publizierender Autor“ gewesen.

Weissweiler überliefert das Bild eines geistreich-scharfsinnigen, allem Blendwerk abholden Zeitgenossen, der Benjamin auf eine produktive Weise nicht das Wasser reichen kann. Brieger ist intelligent und distinguiert, aber nicht begnadet. Im Gegenlicht seiner Limitierung zeichnen sich die Konturen des Formats seines Rivalen ab.

Mediterrane Hotspots

Ein Jahr nach der nationalsozialistischen Machtergreifung besucht der beinah mittellose Walter Benjamin den im dänischen Exil noch saturierten Bertolt Brecht. Der Gastgeber tritt als Hauseigentümer in einer Idylle nahe der Hafenstadt Svendborg auf.

Brechts Stücke werden diskutiert und gespielt. Der Dramatiker bezieht „hohe Tantiemen“. Mit Helene Weigel und Margarete Steffin führt er eine „Ehe zu dritt“.

„Die Welt der Kanzleien und Registraturen, der muffigen verwohnten dunklen Zimmer ist Kafkas Welt.“ Walter Benjamin

Benjamin verstimmt Brechts harsche Kritik an seinem Essay über Kafka - „Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages“. In Verkennung von Benjamins Präzision urteilt Brecht: „Die Bilder sind ja gut. Der Rest ist Geheimniskrämerei.“ Quelle

Im Oktober 1934 reist Benjamin via Paris nach Sanremo, wo er die angenehmste Aufnahme findet. Nach einem unschönen Ende ihrer Ehe mit Walter Benjamin und einer einjährigen Auszeit bemüht sich Dora Kellner (sie trägt zurzeit den Namen ihrer Herkunftsfamilie) wieder um Walters Wohl.

Eva Weissweiler, „Villa Verde oder das Hotel in Sanremo. Das italienische Exil der Familie Benjamin“, btb, 282 Seiten, 22,-

Der Flaneur als Feuilletonist - Ohne die üblichen „Lebens- und Existenzsorgen“ darf das Genie „promenierend und schreibend“ vorübergehend auf einer Ideallinie balancieren. Trotzdem klagt Benjamin. Ihm fehlen die Proust‘schen Abschottungen, die Korkverkleidung an den Wänden.

„Im berühmten, gegen den Lärm mit rohen Korkplatten ausgekleideten Zimmer … (entstand) ein großer Teil der Suche nach der verlorenen Zeit.“ Gegen den Lärm: Marcel Prousts Korkzimmer, Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.06.1996, Nr. 144

Benjamin fühlt sich einer „gefährlichen Belastungsprobe“ ausgesetzt, die, so die Chronistin, von keinem objektiven Anhaltspunkt bestätigt wird. Vielleicht beschwört Benjamin das imaginäre Desaster zur Möblierung seiner Melancholie.

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Auf den Klippen des faschistischen Unheils debütiert die Chemikerin, Schriftstellerin, Journalistin und Übersetzerin Dora Sophie K. (1890 - 1964) als Hotelchefin an der ligurischen Riviera. Ihre Villa Verde preist sie als „vornehmes Haus … mit fließend warmem und kaltem Wasser (und) Zentralheizung (an)“.

Dora bewirtet auch ihren Sohn Stefan Rafael Benjamin (1918 - 1972), der eine Aufnahme im „Kräftefeld“ anstrebt.

„Das Kräftefeld bezeichnet den lebhaften Austausch mit den Freunden Theodor W. Adorno, Bertolt Brecht, Werner Kraft (Margarete Karplus) und Gershom Scholem.“ Bettina Wolf, 2004, „Spannungsfeld zwischen Materialismus und Mystik - Walter Benjamins Kafka-Essay als Ergebnis der Diskussion“, München, GRIN Verlag, Quelle

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Vom saper vivere zum Savoir-vivre - Walter Benjamin fährt zum Kaffeetrinken nach Nizza. „Knapp fünfzig Kilometer“ trennen die mediterranen Hotspots. Der Exilant passiert die Grenze zwischen dolce vita und douce vie im Postbus. Im Winter 1934 begegnen ihm an der Côte d‘Azur Hermann Kesten und Joseph Roth. Sie bilden gemeinsam mit Heinrich Mann eine Wohngemeinschaft „an der Promenade des Anglais“. Benjamin hätte im Verein mit den Heroen einen Exilgipfel besetzen können. Allein, er wollte nicht.

Weissweiler spricht von freiwilliger Isolation. Benjamin habe sich mit der Kläglichkeit seiner Verhältnisse nicht abzufinden gewusst. Schändlich fand er seine Lage: so „eingenistet in den Trümmern (der) … eigenen Vergangenheit“.

Zu seinem Unbehagen trägt die ausdauernde Anwesenheit eines (Ex-?) Geliebten der Gastgeberin bei. Lothar Brieger, ein, so Gershom Scholem, „bequemer … und jovialer Typ, hält sich ein Jahr in der Villa Verde und noch länger in Sanremo auf. Brieger diente Auguste Rodin als Sekretär; Scholems Urteil nennt Weissweiler „völlig neben der Sache“. Tatsächlich sei Brieger „ein manisch publizierender Autor“.

Weissweiler überliefert das Bild eines geistreich-scharfsinnigen, allem Blendwerk abholden Zeitgenossen, der Benjamin auf eine produktive Weise nicht das Wasser reichen kann. Brieger ist intelligent und distinguiert, aber nicht begnadet. Im Gegenlicht seiner Limitierung zeichnen sich die Konturen des Formats seines Rivalen ab. Er schmiedet große Pläne mit Dora, die sich alle zerschlagen. Im Mai 1935 wechselt Brieger in „ein Privatquartier am Corso degli Inglesi“. So besiegelt er das Ende einer vertrauensvollen Beziehung zu Dora. Auch mit Walter verbindet ihn zu diesem Zeitpunkt nichts mehr.

Bald mehr.

Aus der Ankündigung

Ein kleines Hotel an der Blumenriviera wird zum Treffpunkt von Exilanten und Literaten - Mit einem Nachwort von Mona Benjamin, der Enkelin von Dora und Walter Benjamin

Die Geschichte der Villa Verde, eines kleinen Hotels in Sanremo, das von 1934 bis 1940 im Besitz von Dora Sophie Kellner war, der geschiedenen Frau Walter Benjamins. Dora, eine aufstrebende Schriftstellerin, Übersetzerin und Journalistin, verließ als Jüdin Berlin, nachdem Hitler an die Macht gekommen war. In Sanremo baute die ebenso praktische wie geschäftstüchtige Dora sich ein neues Leben auf, gemeinsam mit ihrem Sohn Stefan. Das Hotel, auf einer Anhöhe über dem Meer gelegen, war ein großer Erfolg. Schriftsteller, Maler und Journalisten waren dort zu Gast, Aristokraten und Schieber, Spekulanten und Flüchtlinge, Theodor W. Adorno und seine Frau Gretel, der jüdische Nietzsche-Forscher Oscar Levy oder die Star-Journalistin Anita Joachim. Und auch immer wieder Walter Benjamin selbst, für den es »ein stiller Hafen« in den Jahren der Heimatlosigkeit wurde. Doch es spielten sich auch Dramen in diesem Haus ab: Eifersucht, Intrigen, Liebesgeschichten, kleine und große Tragödien des Exils. 1940 musste es schließlich unter dem Druck der italienischen Rassengesetze schließen, Dora selbst hatte sich 1938 nach London retten können.

Zur Autorin

Eva Weissweiler ist eine renommierte Musikwissenschaftlerin und Biographin. Zu ihren bekanntesten Büchern zählen »Clara Schumann«, »Die Freuds«, »Tussy Marx. Das Drama der Vatertochter«, »Otto Klemperer« und viele mehr. Sie lebt mit ihrem Mann in Köln.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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