Eva Weissweiler - Von einem Kreuz zum anderen

#TexasText/Jamal Tuschick Eva Weissweiler, „Villa Verde oder das Hotel in Sanremo. Das italienische Exil der Familie Benjamin“ - „Dieses Buch erzählt eine Geschichte, wie sie sich bis heute alle Tage ereignet und weiter ereignen wird, solange fanatische Menschen ...

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„Dieses Buch erzählt eine Geschichte, wie sie sich bis heute alle Tage ereignet und weiter ereignen wird, solange fanatische Menschen an der Macht sind, denen Demokratie und Menschenrechte nichts bedeuten.“ Quelle

Von einem Kreuz zum anderen

Walter Benjamin trifft Joseph Hergesheimer 1935 bei einem Abendessen im Haus seiner Ex-Frau Dora. Benjamin schätzt den amerikanischen Schriftsteller. Jener zeigt sich kaum beeindruckt. Benjamin kommt Hergesheimer vor wie jemand, der „gerade von einem Kreuz hinabgestiegen (ist), um das nächste zu besteigen“.

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Bald nach der nationalsozialistischen Machtergreifung versiegen für Dora die publizistischen Erwerbsmöglichkeiten. Die Resolute sattelt ohne viel Federlesens um. Ihren Ex-Mann lässt sie wissen:

„Deine erste Frau wird sich wahrscheinlich in Sanremo eine Pension machen.“

Walter Benjamin hegt „Bedenken … weil er den italienischen Faschismus für gefährlich (hält), während Dora ihn eher als eine Art Folklore (ansieht)“.

Seit der Scheidung trägt sie wieder ihren ursprünglichen Familiennamen. Dora Kellner macht sich dann zur Herrin eines besonderen Hauses: der Villa Emily.

Eva Weissweiler, „Villa Verde oder das Hotel in Sanremo. Das italienische Exil der Familie Benjamin“, btb, 282 Seiten, 22,-

Die Nacht vom 7. auf den 8. September 1794 verbrachte Napoleon Bonaparte in Sanremo. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts förderte eine Eisenbahnverbindung von Genua nach Ventimiglia (keine zwanzig Autominuten von Sanremo entfernt) den Tourismus. 1872 fand der englische Dichter und Maler Edward Lear da sein Paradies. Auf einem Grundstück an der Via Hope ließ er, der sich rühmen durfte, seiner Königin Zeichenunterricht gegeben zu haben, ein Haus errichten: die Villa Emily, so benannt nach einer Freundin, der selbst schöpfenden Schriftstellergattin Baroness Tennyson. Bald verpestete man Lear die Aussicht. Sein nächster Freisitz im Garten Eden mit unverkäuflichem Blick auf die ligurische Riviera di Ponente hieß dann auch Villa Tennyson. Im ausgehenden 19. Jahrhundert bot sich Sanremo als Schauplatz der aristokratischen Sommerfrischler:innen an. Federico Guglielmo di Germania weilte von 1887 bis zur Thronübernahme nach dem Tod seines Vaters im Juni 1888 vor Ort.

1905 eröffnete das Casinò Municipale di Sanremo. Vom 19. - 26. April 1920 konferierten Staatspersonen im Castello Devachan zur Abstimmung der alliierten Nahostpolitik nach dem Niedergang des Osmanischen Reichs. Siehe San Remo Resolution. Die Erklärung nahm Bezug auf die Balfour-Deklaration vom 2. November 1917, in der Großbritannien (als Mandatsmacht in spe) die Gründung eines jüdischen Gemeinwesens („nationale Heimstätte“) im damals noch osmanischen Palästina begrüßte.

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Im März 1934 reist Dora nach Cannes, wo sie von dem Ehepaar Sara und Henry L. Mencken im Haus des Nietzsche-Forschers und Arztes Oscar Levy (1867 - 1946) erwartet wird. Levy ist in besonderem Maß ein Begünstigter der Ungerechtigkeit. Der geborene Stargarder lebte ab 1892 in Großbritannien, wo er eine achtzehnbändige Nietzsche-Ausgabe edierte. 1921 verlor er als former alien enemy seine Aufenthaltserlaubnis.

Dora fährt weiter nach Sanremo. Da erwirbt sie mit Hilfe eines italienischen Strohmanns die Villa Emily, die unter dem Namen Villa Verde alla Foce zu einer Fremdenverkehrsadresse wird. Als Wirtin amtiert Dora von 1934 bis 1940. In dem überwältigenden Ausspannrahmen ergeben sich Momente eines Familienlebens trotz Scheidung und dem Stress der Judenverfolgung. Walter Benjamin erreicht in Sanremo seine volle geistige Spannweite. Er überflügelt sich. Es kommt zu Begegnungen mit Gretel und Theodor W. Adorno sowie der Journalistin Anita Joachim.

Neben Dora „steht … Stefan Benjamin, der gemeinsame Sohn mit Walter Benjamin, im Fokus“ einer Recherche. Quelle
„Stefan Benjamin ist, wie seine Tochter Mona in ihrem Nachwort zu meinem Buch schreibt, von der Benjamin-Forschung immer nur wie eine Fußnote zum Leben seines Vaters behandelt worden. Aus dieser Nische wollte ... ihn (die Autorin) herausholen.“ Quelle

Grandioser Abstieg - Kurz Rückblick auf Doras Herkunftsfamilie und die akademische Laufbahn des Vaters

Er habilitierte sich mit der Hoffnung auf eine Professur in Wien. Doch schickte ihn seine Behörde als „wirklichen Lehrer“ und dürftig ausgestatteten Beamten nach Opava (Troppau) an die Staats-Oberrealschule. In

Eva Weissweiler, Das Echo deiner Frage. Dora und Walter Benjamin - Biographie einer Beziehung, Hoffmann und Campe, 364 Seiten, 24,-

spekuliert die Autorin über eine „Art Strafversetzung … und einen grandiosen Abstieg“ nach Zwischenspielen in europäischen Metropolen. Der mit Anna (geborene Weiß) verheiratete und aus Galizien gebürtige Anglist Leon Kellner trat nicht nur als Vater seiner zweiten Tochter in die Geschichte ein. Er war auch ein zeitiger Herold Herzls.

„Ich bin ein guter Österreicher … ein deutscher Schriftsteller (die deutsche Sprache erscheint Kellner als „zweites Vaterland“) und mit Leib und Seele Zionist.“

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Dora Sophie Kellner kam im Januar 1890 zur Welt, gerade als „täglich vierzig bis fünfzig Wienerinnen und Wiener“ an der Grippe sterben. Um dem österreichischen Antisemitismus zu entgehen, wich die Familie Kellner unter einem akademischen Vorwand nach London aus. Anna trug zum Familieneinkommen mit Übersetzungen bei. Weissweiler führt Leonard Merricks „One Man‘s view“ an.

Der Familie gelang es nicht, in London Fuß zu fassen. Wieder in Wien überwarf sich Leon Kellner mit Theodor Herzl, der 1904 im Alter von vierundvierzig Jahren starb. Trotz des Zerwürfnisses oblag Kellner die Herausgabe des Nachlasses, darunter „Keime zu Feuilletons“. Der halb unwillige Editor erhielt einen Ruf nach Czernowitz, dem „Wien des Ostens, Hauptstadt der Bukowina“.

„Krawalle und Schlägereien waren an der Tagesordnung.“

Sieben Tageszeitungen kursierten in der Stadt. Dora besuchte das Lyzeum und geriet in den Taumel der inspirierten Existenz. Die angehende Schriftstellerin begegnete ihrem Material. Sie sang. Den Zweifeln an ihrer Stimme gab sie literarisches Volumen:

„Nicht tief und dunkel, nicht groß, aber warm und lebendig“, klingt Doras Romanheldin Camilla.

Obwohl sie in einem musischen Milieu sozialisiert wurde, studierte Dora Chemie. 1912 heiratete sie Max Pollak. Die gesellschaftlich avancierte Verbindung konnte auch mit dem „Misstrauen (gegenüber) der romantischen Liebe“ nicht abbruchsicher gemacht werden. Die Ehe wurde einvernehmlich nicht vollzogen. Das distanzierte Paar veränderte sich nach Berlin und quartierte sich in einer japanischen Pension in der Schöneberger Motzstraße ein.

Weissweiler schildert einen superdiversen Kiez, in dem allenfalls der Prinz von Theben aka Else Lasker-Schüler auffiel.

Bald mehr.

Aus der Ankündigung

Ein kleines Hotel an der Blumenriviera wird zum Treffpunkt von Exilanten und Literaten - Mit einem Nachwort von Mona Benjamin, der Enkelin von Dora und Walter Benjamin

Die Geschichte der Villa Verde, eines kleinen Hotels in Sanremo, das von 1934 bis 1940 im Besitz von Dora Sophie Kellner war, der geschiedenen Frau Walter Benjamins. Dora, eine aufstrebende Schriftstellerin, Übersetzerin und Journalistin, verließ als Jüdin Berlin, nachdem Hitler an die Macht gekommen war. In Sanremo baute die ebenso praktische wie geschäftstüchtige Dora sich ein neues Leben auf, gemeinsam mit ihrem Sohn Stefan. Das Hotel, auf einer Anhöhe über dem Meer gelegen, war ein großer Erfolg. Schriftsteller, Maler und Journalisten waren dort zu Gast, Aristokraten und Schieber, Spekulanten und Flüchtlinge, Theodor W. Adorno und seine Frau Gretel, der jüdische Nietzsche-Forscher Oscar Levy oder die Star-Journalistin Anita Joachim. Und auch immer wieder Walter Benjamin selbst, für den es »ein stiller Hafen« in den Jahren der Heimatlosigkeit wurde. Doch es spielten sich auch Dramen in diesem Haus ab: Eifersucht, Intrigen, Liebesgeschichten, kleine und große Tragödien des Exils. 1940 musste es schließlich unter dem Druck der italienischen Rassengesetze schließen, Dora selbst hatte sich 1938 nach London retten können.

Zur Autorin

Eva Weissweiler ist eine renommierte Musikwissenschaftlerin und Biographin. Zu ihren bekanntesten Büchern zählen »Clara Schumann«, »Die Freuds«, »Tussy Marx. Das Drama der Vatertochter«, »Otto Klemperer« und viele mehr. Sie lebt mit ihrem Mann in Köln.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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