Ingenieure der Seele

#TexasText/Jamal Tuschick Galia Ackerman/Stéphane Courtois - „Schwarzbuch Putin“ - Putin war zu keinem Zeitpunkt bereit, die westliche Lesart von Demokratie zu übernehmen. Für ihn liegt im Westen nicht die Freiheit, sondern das falsche Leben ...

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„Wenn einen das Schicksal der Ukraine kalt lässt, dann stimmt etwas nicht mit einem.“

Niall Ferguson „über die Lust am Untergang, das Versagen des Westens in der Ukraine-Politik und die Gefahr eines Atomkriegs“ in einem Interview am 15. Dezember 2022 in der Süddeutschen Zeitung

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Die Autor:innen des von Galia Ackerman und Stéphane Courtois herausgegebenen „Schwarzbuch Putin“ gehen der Frage nach: „Wer ist Wladimir Putin?“

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Das „Stalin-Epigramm“ - In dem heimlich geschriebenen und verbreiteten Gedicht aus dem Jahr 1933 charakterisiert Ossip Mandelstam den Chef der Sowjetunion als „einen Verderber der Seelen und Bauernschlächter“.

„Wie Himbeeren schmeckt ihm das Töten.“

Die lyrische Subversion bildete den Auftakt der Ächtung und Vernichtung Mandelstams in mehreren Akten. Putin rehabilitiert Stalin, dessen unmenschliche Ordnung in seinen Augen eine so überzeugende Traditionslinie liefert, dass er sie verlängern will.

Gegengeschichtsschreibung

Putin erlebte den Untergang der Sowjetunion als nationales Desaster. Der Aufbruch von Neunundachtzig war für den gelernten KGB-Agenten eine Niederlage im Kalten Krieg. Die Konditionen der postkommunistischen Frühphase beschreibt Putin mit Schlüsselbegriffen aus dem revanchistischen Diktatfrieden-Vokabular militanter Kritiker:innen des Vertrags von Versailles.

„Schwarzbuch Putin“, herausgegeben von Galia Ackerman und Stéphane Courtois, übersetzt von Jens Hagestedt, Ursula Held, Jörn Pinnow, Nadine Püschel, Barbara Sauser, Thomas Stauder, Elisabeth Thielicke, Piper, 503 Seiten, 26,-

Sein Geschichtsrevisionismus macht Putin zum großen Gegenerzähler. Die westliche Perspektive auf die Entzauberung des Warschauer Pakts geht von einer historischen Konsequenz aus, die Putin wie ein Kaugummi in die Länge zieht. In der Verlängerung triumphieren die aus Schaden klug gewordenen Verlierer:innen über die 89er-Sieger:innen.

Für die Russ:innen war das letzte Jahrzehnt vor der Jahrtausendwende vielleicht sogar schwerer als die unmittelbare Nachkriegszeit. Es wurde gestorben „wie in einem offenen Krieg“.

„Man schätzt, dass allein in Russland zwischen 1989 und 1995 1,3 bis 1,7 Millionen Menschen vorzeitig starben.“ Vor allem Menschen mittleren Alters erlagen „psychischem Stress“ in Prozessen, die das Überkommene finalisierten.

Zitate aus Ivan Krastev/Stephen Holmes, „Das Licht, das erlosch“

Putin war zu keinem Zeitpunkt bereit, die westliche Lesart von Demokratie zu übernehmen. Für ihn liegt im Westen nicht die Freiheit, sondern das falsche Leben, das er mit dem Liberalismus identifiziert. Gemeinsam mit vielen Russ:innen betrauert er den Zerfall der Sowjetunion bis auf den heutigen Tag.

„Das Ende der UdSSR (ist für ihn) die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts.“

Reaktionärer Nativismus

Nach Putins geostrategischen Begriffen verblenden die Verfechter:innen des westlichen Demokratiemodells ihren Expansionsdrang mit Moralgipsgirlanden.

Die kampflose Preisgabe einer Domäne

„Eine militärische Supermacht, die das Leben auf der Erde hätte auslöschen können, verschwand einfach wie das Trugbild eines Illusionisten.“ Ivan Krastev/Stephen Holmes

Der Koloss Sowjetunion implodierte. Dem Zusammenbruch fehlte die normative Kraft einer militärischen Niederlage. Beim Rüstungswettlauf war der UdSSR die Luft ausgegangen. Auf die Kondition des schwächelnden Riesen waren Wetten abgeschlossen worden. Der Zynismus, mit dem man „das Reich des Bösen“ (Reagan) in die Knie zwang, prägte die russische Wahrnehmung des Westens.

Systemischer Sadismus

„Wir … übernehmen die wesentlichen Grundsätze der Demokratie, aber diese Grundsätze müssen den Traditionen Russlands angepasst werden.“ Putin 2005 bei einem Treffen mit George W. Bush; zitiert aus „Schwarzbuch Putin“

In ihrer Abrechnung „DasLicht, das erlosch“ finden die Soziologen Ivan Krastev und Stephen Holmes keine Erwartung gründlicher enttäuscht als die Vorstellung, der erodierte Ostblock verhielte sich wie das arme, aber willige Blumenmädchen Eliza Doolittle in G.B. Shaws Lehrstück „Pygmalion“ und übe gegenüber dem selbstherrlichen Professors Henry Higgins aka Mister West Ergebenheit. Stattdessen „bekam die Welt eine Bühnenfassung von Mary Shelleys Roman Frankenstein zu sehen“.

In ihrem Beitrag „Die Erschaffung des Homo post-sovieticus: Putins Ingenieure der Seele“ beleuchtet Françoise Thom die Folgen einer Entfesselung des sowjetischen Propagandaapparats nach dessen Befreiung vom kommunistischen Ballast. Die Historikerin spricht von einer „Umerziehung (der postsowjetischen Bevölkerung) zum Schlechteren“. Die Herrschaftssprache sei längst „losgelöst von jeglichem Anspruch auf Wahrheit“. Die Eliten überböten sich in menschenverachtenden Einlassungen. Der Mitbegründer der Nationalbolschewistischen Partei Russlands Alexander Geljewitsch Dugin habe zum Genozid an der „Bastardrasse“ der Ukrainer:innen aufgerufen.

Unverschämtheiten auf höchster Ebene belegten die Unantastbarkeit der regierenden Klasse.

„Der Putinismus hat den systemischen Sadismus des Stalinismus übernommen.“ Igor Jakowenko

Archaischer Aushandlungsstil/Russischer Revolverstil

Putins Ausdrucksweise stiftete „sprachwissenschaftliche Untersuchungen“. Das überliefert Yves Hamant in seinem Aufsatz „Putins Jargon: Markierung einer Lebenseinstellung“. Der französische Russlandkenner bilanziert: Putin orientiere sich nicht allein an dem - mit verkappten Beleidigungen und Mehrdeutigkeiten jonglierenden - Jargon des organisierten Verbrechens in der russischen Spielart. Vielmehr fördere er in seiner Sphäre ein Verhalten, dass der Journalist Juri Martschenko bereits 2015 als „Diplomatie der Hinterhöfe“ anprangerte. Die westeuropäischen Emissäre stünden dem archaischen Aushandlungsstil hilflos gegenüber. Niemand hat sie auf den russischen Revolverstil vorbereitet.

Die Verlogenheit des Westens

ist das Kernstück jeder russischen Kritik.

„Es steht außer Zweifel, dass … Länder, die früher zur sowjetischen Interessensphäre gehörten, niemals dahin zurückwollen.“ Galia Ackerman/Stéphane Courtois, „Schwarzbuch Putin“

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„Da man befürchtete, dass sich ein Mehrparteiensystem durchsetzen könnte, vervielfachte der KGB seine Bestrebungen zur systematischen Infiltration von Oppositionsgruppen.“ Françoise Thom

In unserer Sichtweise bestimmt ein autoritärer Kapitalismus die Staaten jenseits der bundesrepublikanischen Ostgrenze. In der Wahrnehmung der postkommunistischen Gesellschaften erscheinen wir als die Verworfenen, die zwar Demokratie sagen, aber Hegemonie meinen, anstatt so transparent wie Putin staatsegoistische Ziele zu verfolgen.

Auch wenn sie nie wieder unter russische Kuratel gestellt werden wollen, ankern die Kerngesellschaften des ehemaligen Warschauer Paktes seelisch in einem Anti-Westen.

Vielleicht wird dieser Anti-Westen der Neue Westen.

Der russische Standpunkt

„Wir machen kein Geheimnis aus der Tatsache, dass wir ein russischer Sender sind - selbstverständlich sehen wir die Welt vom russischen Standpunkt aus. Wir sind in dieser Hinsicht sehr viel ehrlicher.“ Die Starjournalistin Margarita Simonowna Simonjan, Quelle

Thom zählt Margarita Simonowna Simonjan zu den „großen (Propagandistinnen) des Putinismus“. Als Schülerin gewann Simonjan ein Amerika-Stipendium. Der Realitätscheck habe bei ihr die Fama vom Goldenen Westen zerstört. Gleichzeitig lernte Simonjan die Unabhängigkeitserklärung auswendig.

Simonjans, 2022 verstorbener Kollege Wladimir Wolfowitsch Schirinowski, von Thom als „Populismusvirtuose“ charakterisiert, erklärte die ukrainische Bevölkerungszusammensetzung so:

„Es gibt dort zwei verschiedene Völker. Auf der einen Seite die Russen und russifizierte Ukrainer, auf der anderen die Westler, die in den zu Österreich-Ungarn gehörenden Gebieten gelebt haben.“

Wahr ist, in der Neuzeit konkurrierten auf dem Gebiet der heutigen Ukraine das zaristische Hegemonialbestreben mit dem westlich orientierten, sprich fortschrittlichen Komment der litauisch-polnischen Adelsrepublik. Stichwort Rzeczpospolita. In der Ukraine verliefen die Grenzen zwischen dem östlichen und dem westlichen Christentum. Im Ganzen begegnete das Christentum dem Islam. Die Einverleibung der von einer geopolitischen Verschiebung zugunsten Russlands erschütterten Landmasse stand die Konstitution der Kosaken entgegen. Ihre Staatlichkeit war das Hetmanat. Peter der Große schaffte das Selbstbestimmungsmodell ab. Katharina die Große hieb in dieselbe Kerbe: „Wenn es in Kleinrussland keine Hetmane mehr gibt, muss man alles daransetzen, dass auch die Bezeichnung Hetman für immer verschwindet und keinesfalls jemand in dieses Amt eingesetzt wird.“

Erinnern wir uns. Als die Ukraine am 24. Februar angegriffen wurde, hielten viele das Weitere für eine Frage von achtundvierzig Stunden. Im antiquierten Geist des Blockdenkens war Russland - als Erbin der auseinandergebrochenen Sowjetunion - die Zentralgewalt und die Ukraine bloß ein Satellitenstaat mit schlecht befestigten Souveränitätsansprüchen. Zu Recht hielt der Historiker Timothy Snyder der nicht allein diskreditierenden, vielmehr den Westen entlastenden Erzählung von der Ukraine als einem russischen Satelliten entgegen: „Die Ukraine muss am 23. Februar 2022 als Gesellschaft und Gemeinwesen existiert haben, sonst hätten die Ukrainer der russischen Invasion am nächsten Tag nicht kollektiv Widerstand geleistet.“ NZZ, Quelle

Aus der Ankündigung

Am 24. Februar 2022 schickte Wladimir Putin seine Armee gegen die Ukraine in den Krieg und traf damit eine Entscheidung, die das politische und ökonomische Gleichgewicht der ganzen Welt ins Wanken brachte. Der russische Angriffskrieg bringt unzählige menschliche Tragödien und immense materielle Zerstörung mit sich, und er wirft eine zentrale Frage auf: Wer ist Wladimir Putin, dieser Mann, der sich weigert, Lehren aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu ziehen, und der von der Rückkehr zu den Grenzen des Zarenreichs und der Wiedereinsetzung eines Regimes träumt, das sich der totalitären Methoden des Stalinismus bedient? Wie wurde dieser Mann, der 1952 in Leningrad in einfachen Verhältnissen geboren wurde, ausgebildet? Warum war er schon in jungen Jahren von der „heroischen“ Idee fasziniert, für den KGB zu arbeiten? Welche Tätigkeiten übte er dort vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion aus? Wie schaffte es dieser bescheidene Oberstleutnant an die Spitze der Macht? Warum entfachte er mehrere mörderische Kriege? Woher kommt seine Obsession für die Eroberung der Ukraine? Und selbst wenn er eines Tages seine Position verlieren sollte, würde sich sein Regime nicht halten?

Das „Schwarzbuch Putin“ liefert Antworten auf diese und weitere drängende Fragen von den renommiertesten internationalen Expertinnen und Experten für Russland und den Kommunismus.

Mit exklusiven Beiträgen von Katja Gloger, Claus Leggewie und Karl Schlögel.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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