Gwendolyn Brooks - Intelligente Mimose

#TexasText/Jamal Tuschick Gwendolyn Brooks, „Maud Marta” - Maud Martha liebt den Abendhimmel über ihrem Elternhaus. Den Ausblick hält sie für einmalig. Nirgendwo auf der Welt „trommelt der Regen so herrlich langweilig aufs Dach“ wie hier.

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Schwarze Helligkeit

„Die Wut ist die letzte Zuflucht für jene, die nichts gelten.“ Aya Cissoko

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„Wenn die Wurzel angefault (ist), welchen Sinn (hat) es (dann), an einem Blatt herum zu säbeln.“ Gwendolyn Brooks

Gefühlsmathematik

Maud Martha Brown ist ein Kind der South Side von Chicago. Vater Abraham kämpft mit den Raten für ein Haus westlich des Bahnhofs Cottage Grove. Mutter Belva macht gute Miene zum bösen Spiel semi-prekärer Verhältnisse. Der zwei Jahre jüngeren Schwester Helen fliegen alle Herzen zu. Sogar Harry verehrt Helen. Mit Maud Martha balgt er „kumpelhaft“. Diese Schwester vernachlässigt er gedankenlos.

Maud Martha liebt den Abendhimmel über ihrem Elternhaus. Den Ausblick hält sie für einmalig. Nirgendwo auf der Welt „trommelt der Regen so herrlich langweilig aufs Dach“ wie hier.

Gwendolyn Brooks, „Maud Marta”, Roman, Manesse, aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Ott, 155 Seiten, 22,-

Intelligente Mimose

Gwendolyn Brooks (1917 - 2000) erzählt die erstmals 1953 veröffentliche, in den 1940er Jahren angesiedelte Geschichte von Maud Martha in ergreifenden Miniaturen, die an Votivmalerei erinnern. Zum Zeitpunkt der Niederschrift verkörperte die Autorin den Stolz und die Emanzipationserwartungen vieler Schwarzer Amerikaner:innen. Drei Jahre zuvor war Brooks‘ - als erste Schwarze Dichterin - mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet worden.

Brooks‘ Heldin gestattet sich keine Illusionen. Ihre Rechenschieber-Intuition garantiert exakte Resultate im Spektrum der Gefühlsmathematik. Geschickt verbirgt die vorgeblich kühl Kalkulierende eine intelligente Mimose, die sich allezeit zurückgesetzt fühlt.

Die Welt ist kein guter Ort für Maud Marthas scharfsinnige Sensibilität. Sie „angelt“ sich einen, der ihren Wert - ohne große Begeisterung - zu erkennen vermag. Auch Paul Phillips hält sich für einen Realisten, der zwar eine hübschere Frau, nicht aber eine bessere heiraten könnte.

Maud und Paul starten mit einem Mut, der nicht vorhält. Ihre Lebenskraft wird in Verhältnissen aufgerieben, die Mauds vergleichsweise hellhäutige Schwester privilegiert.

Schwarze Helligkeit ist ein Kriterium. Paul verzichtete selbstkritisch auf eine Hellere. Sich selbst attestierte er ein „richtiges …gesicht“.

Trauerspiel der Behaglichkeit

Bei der Eheschließung wähnen sich Maud und Paul am Anfang eines mäßigen Aufstiegs. Beide glauben, die Zutaten für eine Schwarze Mittelschichtsexistenz zu kennen.

Der erste Streit entzündet sich an der Frage: Ofen- oder Dampfheizung. Das Paar landet in einer Kitchenette.

“The kitchenette initially described a newly constructed small apartment in Chicago, first appearing around 1916 in Uptown, at a time when apartment construction in the city was increasing dramatically. It featured Pullman kitchens and Murphy in-a-door bed to conserve space, and connoted efficiency and modernity.” Encyclopedia of Chicago, Quelle

Ein Trauerspiel der Behaglichkeit bahnt sich an. Alle Versprechen, die Maud sich selbst gab, verflüchtigen sich in struktureller Enge.

Die Konsequenzen der Segregation nisten in sämtlichen sozialen Ritzen. Die Ungleichheit tritt in tausend Kostümen auf. Ihre Allgegenwart wirkt zersetzend.

Soziale Ritzen

Maud und Paul besuchen den Jahresball des Foxy Cats Club. Sie fühlt sich deplatziert unter lauter Poser:innen, aber er fühlt sich genau richtig. Die Differenz führt zu Gattengrausamkeiten, wenn auch in milden Spielarten. Maud und Paul vermeiden es, einander zu sehr zu strapazieren. Ihr Pragmatismus wirkt mitunter rührend. Die normative Kraft des Faktischen zieht ihnen ständig den Boden unter den Füßen weg.

Maud bringt Paulette zur Welt. Das Leben geht weiter. Es setzt sich über die persönliche Not jedes Einzelnen hinweg.

„Maud Martha“ blieb Gwendolyn Brooks’ einziger Roman. Er kommt mit wenigen topografischen Angaben aus. Die zeitgeschichtlichen Marken sind sedimentär. Ihre hintergründigen Setzungen suggerieren die Ferne eines Wetterleuchtens. Das Epochenereignis der Handlungsgegenwart, den Zweiten Weltkrieg, streift die Autorin kaum. Maud spekuliert darüber, ob ihr Mann sich als Soldat auf ein höheres Selbstbewusstseinsniveau begeben könnte. Tatsächlich verliert Paul seinen zivilen Status nicht. Mauds eingezogener Bruder kehrt unblessiert heim. Die Schwester registriert die Varianten wie mit einem Achselzucken.

Brooks historische Referenzen ergeben sich in Schilderungen der Ungleichheit. Die Autorin diagnostiziert Folgen einer alle Gesellschaftsbereiche durchziehenden Diskriminierung.

Aus der Ankündigung

«In den Händen einer der bedeutendsten amerikanischen Schriftstellerinnen erhebt sich das Alltägliche zu einem hinreißenden Porträt einer Schwarzen Frau.» Claudia Rankine

Die sensationelle Entdeckung aus der US-Moderne, erstmals auf Deutsch!

Maud Martha Brown wächst in den 1940ern in der South Side von Chicago auf. Inmitten von verfallenen Kneipen und überwucherten Gärten träumt sie von New York, von der großen Liebe, von einer heiteren Zukunft. Sie schwärmt für Löwenzahn, verliebt sich das erste Mal, dekoriert ihre erste eigene Küchenzeile, bekommt ein Kind. Auch ihr hellhäutigerer Mann hat Träume: vom «Foxy Cats Club», von anderen Frauen, vom Krieg. Und dann ist da als allgegenwärtiger Begleiter noch der Rassismus dieser Zeit, angesichts dessen es nicht immer leichtfällt, Gleichmut und Würde zu bewahren. In lakonischen Vignetten skizziert Gwendolyn Brooks den Alltag einer jungen Schwarzen Frau und erschafft dabei große Weltliteratur.

»Ich möchte, dass alle diesen vergessenen literarischen Schatz lesen!« Bernardine Evaristo (27. Juli 2022)

Zur Autorin

​Gwendolyn Brooks gilt als eine der bedeutendsten Lyrikerinnen der USA. Kurz nach ihrer Geburt zog sie mit ihren Eltern nach Chicago - in jene Stadt, der sie auch literarisch zeitlebens verbunden blieb. Als erste Schwarze Autorin erhielt sie 1950 den Pulitzer Preis für ihren Lyrikband «Annie Allen». 1976 wurde sie außerdem als erste Schwarze Autorin in die American Academy of Arts and Letters aufgenommen. «Maud Martha» aus dem Jahr 1953 ist ihr einziger Roman und erscheint erstmals auf Deutsch.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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