Hans Mayer - Winckelmann als Pasolini des 18. Jahrhunderts

#TexasText/Jamal Tuschick In einem Brief an den aus Kattowitz gebürtigen Juristen und Kritiker Franz Goldstein (1898 - 1982) unterscheidet Klaus Mann hierarchisch lyrische von gedanklicher Schönheit zum Nachteil der glücklichen Fügung und des gelungenen Wortes.

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Die Virulenz des Faschismus erklärt Adorno mit einer paradoxen Reaktion. Deklassierte und von Deklassierung bedrohte Schichten mit einem bürgerlichen Selbstverständnis verweigern die Ablehnung jener kapitalistischen Kräfte, die sie bedrohen. Stattdessen suchen sie da ihre Feinde, wo ein Widerstand gegen den Kapitalismus Gestalt annimmt.

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„Hätte ich aus meinen Schwächen nicht Romane machen können, hätte ich sie ein Leben lang ausbaden müssen.“ Rumourya Shukowa

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„Es gibt eine Art von Ehrgeiz, die zu den Pflichten eines jeden … gehört; und das ist der Ehrgeiz, es richtig zu machen.“ Christoph Martin Wieland an Herzogin Anna Amalia am 19. Juli 1772

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Didier Eribon findet bei Jean Genet das Material für eine „Anamnese der verborgenen Konstanten“ (Pierre Bourdieu).

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In einem Brief an den aus Kattowitz gebürtigen Juristen und Kritiker Franz Goldstein (1898 - 1982) unterscheidet Klaus Mann hierarchisch lyrische von gedanklicher Schönheit zum Nachteil der glücklichen Fügung und des gelungenen Wortes.

Winckelmann als Pasolini des 18. Jahrhunderts

Im Streit griffen sie nach der Herkunftskehle des anderen. Um Distinktion und Satisfaktionskomment bemüht, erklärte Heinrich Heine, bei August Graf von Platen nicht die Überschreitung heteronormativer Schranken zu verurteilen, sondern „dessen (lyrische) Heuchelei“.

Platen „verschleiere … sehnsüchtig, pfäffisch … heuchlerisch“, anstatt „schroff … (und) plastisch sich in antiker „Offenheit“ zu üben.

Mayer findet Heines Hohn „ingeniös (und) unaufrichtig“. Jener habe „den Widersacher in der Existenz“ zu treffen nicht gescheut. Er vergisst nicht zu erwähnen, dass sich Heine einer Kampagne ausgesetzt sah, die darauf zielte, ihn in Academia zu verhindern. Mit der Idee, so ein „Entre Billet (Originalschreibweise) zur Europäischen Kultur“ zu erwerben, hatte sich Heine taufen lassen. Ihm schwebte eine Professur in München vor.

Das Desaster vervollständigte sich auf beiden Seiten. Heine ging nach Paris, Platen blieb in Italien. Der Kampf zweier „autochthoner Außenseiter“ endete mit einer doppelten Niederlage.

Hans Mayer, „Außenseiter“, Suhrkamp

Mayer bemerkt die Austauschbarkeit der „Positionen in diesem singulären Streit“. Ein Kampf gegen sich selbst sei der Streit für Heine gewesen, der deshalb nicht siegen konnte.

„Ein kurzer Schrecken, ein schneller Schmerz“ - Gewaltsame Harmonisierung

Johann Joachim Winckelmann starb, „gefesselt und erdolcht“, in einem Triester Gasthaus. Goethes Nachruf rahmte die Bluttat „fast gewaltsam harmonisierend in folgender Weise: ‚So war er denn auf der höchsten Stufe des Glücks … der Welt verschwunden.‘“

Goethe meditierte über den Segen eines zeitigen Todes. Winckelmann seien die „Leiden und Ausfälle des Alters“ erspart geblieben. Der Autor ignorierte das Gerichtsprotokoll, das einen gescheiterten Erdrosselungsversuch und ein langsames Verbluten aus vier Wunden konstatierte. Weitere Umstände lassen an die Ermordung Pasolinis denken.

Mit geistesaristokratischer Grandezza fegte Goethe über Winckelmanns Homosexualität hinweg. Für die feudale Elite des Absolutismus zählten sexuelle Präferenzen zur Libertinage. Allenfalls boten sie Komödien Stoff, so Mayer. Zur Tragik taugten sie nicht. In den Betten der Macht gab es weder Zerrissenheit noch Doppelmoral.

Mayer erklärt, dass Goethes Auffassung des so suspekt Ermordeten den bürgerlichen Zugriff auf gesellschaftliche Verkehrsformen ignoriert. Er verweist auf Hofmannsthals „Märchen der 672. Nacht“. Darin rührt der Tod eines Ästheten* an den Tabus, die schließlich auch Oscar Wilde vernichteten.

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André Gide reagierte in dem 1902 erstmals veröffentlichten Roman „Der Immoralist“ auf den grandiosen „Immoralisten“ Oscar Wilde.

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Didier Eribon erwähnt in seinen „Betrachtungen zur Schwulenfrage“ „homosexuelle Kodes“ in einem Kreis um Oscar Wilde. Man wollte sich aussprechen. Die Repression diktierte den Text. Gleichzeitig entstand ein „Gegendiskurs“ zu einer Pathologisierung der Sexualität, in der die Homosexualitt als Anlass zur Verfolgung sichtbar wurde. Nach Eribon bemächtigte sich die Psychiatrie „der Homosexuellen ebenso wie der Irren“, um sie gemeinsam als ein Paar aus „Narren und Wüstlingen“ auf ein infernalisches Zuschreibungskarussell zu setzen. Wilde erfand „Widerstandsgesten“ und schrieb sie seine „Wortmeldungen“ ein.

Die Gesellschaft verdaute die Strömung als L‘art pour l’art und ästhetischen Rigorismus.

Andersen schreibt über die Galoschen des Glücks, ich aber schreibe davon, wo der Schuh drückt.“ Søren Kierkegaard, Quelle

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„Der gleiche freudlose Streit, den Andersen selbst im Leben zu streiten hat, wiederholt sich nunmehr in seiner Poesie.“ Søren Kierkegaard

In seinem publizistischen Debüt „Aus eines noch Lebenden Papieren“ „denunziert“ Søren Kierkegaard 1838 die literarische Transformation einer tristen Existenz als „lügenhaftes“ Unterfangen. Maß nimmt der Fünfundzwanzigjährige an dem acht Jahre älteren Hans Christian Andersen und dessen im Vorjahr erschienenen Roman „Nur ein Spielmann“. Mayer spricht dem Abgekanzelten, dem der „Spielmann“ in Deutschland zum Durchbruch verhalf, die Voraussetzungen ab, um die „Tragweite“ der Kritik zu verstehen. Der Nachgeborene folgt Kierkegaard, in dem er die Manöver auflistet, die Andersens erotisches Außenseitertum absicherten.

Der Außenseiter Kierkegaard monierte die Selbstpoetisierungen des arrivierten „Märchendichters“ aus der Gosse. Mayer schlägt in dieselbe Kerbe, wenn er Andersen als „Improvisator ohne Substanz“ darstellt. Der Sohn einer Waschfrau und eines Schuhmachers schlachtete sein Elend aus. Von seinen Niederlagen kehrte er siegreich heim.

„Die Tränen von einst weint er gern noch einmal beim Nacherzählen.“

Bevor er für eine Frau schwärmte, musste sie anderweitig festgebunden sein. Wie Winckelmann, Platen und die „englischen Capripilger“ suchte Andersen „Erfüllung im südlichen Gelände“; doch nur als Ersatz „für die fehlenden Vereinigungen mit den dänischen Freunden“.

Auf die Epochenschläge und „Zeitkonflikte“ reagierte er indifferent und opportunistisch. Kriege und Revolutionen verflüchtigen sich in seiner Korrespondenz. Erst nach Andersens Tod erfolgten die öffentlichen Einordnungen von Werk und Person. Sie bestätigten Kierkegaards so unfreundliches wie hellsichtiges Urteil. Kierkegaard hatte den Radius des prekär Geborenen antizipiert und die Spannweite genau angegeben. Auch dies war ein Beispiel für des Kaisers neue Kleider.

Der „Einschnitt“ Auschwitz

Hans Mayer vergleicht Otto Weiniger mit Norman Mailer. Er verwendet die Adressen der Autoren als Epochensignale. Wien und New York. Dazwischen liegt der „Einschnitt Auschwitz“. Mayer schreibt Einschnitt und setzt Auschwitz kursiv. „Beide (Autoren) amalgieren Feminismus und Semitismus.“

Der Autor untersucht „die Verknüpfung des Sexuellen mit dem Politischen“. Mailer provozierte die Gemeinde, indem er der „weiblichen Emanzipation, (dem) Faschismus und (der) Judenemanzipation“ einen Zusammenhang bot. Er apostrophierte Jüdinnen und Juden als „Missionare der neuen Technologie“. Einer Technologie, die … darauf „wartet, alle traditionellen und kulturellen Schranken … zu durchbrechen“. Das aber wollte auch Women’s Liberation um 1975 (dem Erscheinungsjahr von Mayers „Außenseitern“).

„Geschlechtsverkehr muss aufhören, das Mittel der Bevölkerungserneuerung zu sein.“

Michel Foucault weist nach, dass die Ökonomisierung der Sexualität, nicht erst vom Christentum ausgelöst wurde. Die ersten Kirchenväter kopierten stoische Leitsätze. Dazu bald mehr.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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