Hochöfen der Bildungsreform

#TexasText/Jamal Tuschick Im Erfolg von Ikea offenbarte sich jene Ästhetik zwischen Prosperität und Pazifismus, die zur Epochensignatur wurde

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Im Erfolg von Ikea offenbarte sich jene Ästhetik zwischen Prosperität und Pazifismus, die zur Epochensignatur wurde.

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… die ins Allgemeine diffundierte, in Academia populäre Idee, man könne der bürgerlichen Karriere ein revolutionäres Krönchen aufsetzen. Ulrike Meinhof avancierte nicht zuletzt deshalb zum Idol. Die Pistole in ihrer Handtasche wirkte ikonografischer als das Emblem der Roten Armee Fraktion. Gleichzeitig symbolisierte die Waffe ein biografisches Desaster.

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In den Feuchtgebieten der Organisationsform Familie sumpfen ursprünglichste Informationen. Man staunt, wie klein jene Gruppen waren, die unseren Anfang im Jungpleistozän überlebten. Nomadische Beutemachergemeinschaften betrieben (waffenlose) Ausdauerjagd nach dem Prinzip andauernder Beunruhigung. Man scheuchte das Wild, bis es sich der Erschöpfung ergab. Heute noch hetzen isolierte Ju/’Hoansi-Gruppen im Nordosten Namibias Tiere zu Tode.
„Die besten Menschen bewahren sich einen nackten Hintern“, glaubte Paul Theroux. Die „goldfarbenen“ Ju/’Hoansi erschienen mit asiatischen Zügen in ihren angestammten Verbreitungsgebieten als Nachfahren von Migranten. Man weiß nicht, wen sie verdrängten, doch kennt man ihre europäischen und indigenen Verfolger. Sie überlebten in Vermeidung schwerer Auseinandersetzungen als Spezialisten für trockene Gebiete, um nun in Fetzen aus deutschen Altkleidersammlungen an Stadträndern zu verelenden.

Biografisches Desaster

Der bürgerlich geborene Kapitän zur See Jean-François de Galaup de La Pérouse stritt im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg für die Abtrünnigen, bevor er 1785 von Ludwig XVI. mit den verschwisterten Fregatten Astrolabe und Boussole zum Großeinkauf nach Ozeanien geschickt wurde. Zum letzten Mal sah man ihn im März 1788 vor Neukaledonien.

The expedition vanished mysteriously. Les deux navires disparaissent.

1789 querte Arthur Phillips, ein Hesse in britischen Diensten, die nach Luis Váez de Torres benannte Meerenge zwischen Australien und Neuguinea. Auf einer Admiralitätsinsel erschreckte er die Nachfahren (hundert Jahre zuvor) gestrandeter Chinesen.

Nicht nur Artefakte belegten die Herkunft. Auch die Sprache des neuen Stammes bewahrte Wörter aus einer anderen Welt. Die Leute gingen genauso nackt wie ihre Nachbarn.

Was sie unterschied, schien sie auszuzeichnen und bei Anderen Furcht hervorzurufen.

„Kein Abkömmling der Schiffbrüchigen hatte je die Zivilisation gesehen und doch steckte sie in jedem“, schrieb Phillips in „Kommodore Phillip’s Reise nach der Botany-Bai auf Neuholland. Nebst einer genauen Nachricht von der neuen englischen Niederlassung zu Jacksons-Port und einer kurzen Geschichte und Beschreibung von Neuholland“.

Im folgenden Jahr erreichte Phillips die Salomonen, wo man ihm von einem weißen Schiffsbrüchigen erzählte, der bald nach seiner Rettung starb. Man zeigte ihm Gegenstände französischer Provenienz. Philipps entdeckte Schlachtengemälde auf abgezogener Menschenhaut. Er hielt sich mit den Skarifizierungen seiner Gastgeber auf. Ihren Gefangenen öffneten sie mit Spezialwerkzeugen den Bauch. Als besondere Delikatesse galt das Gehirn.
„Um an das Gehirn zu kommen, schlug man den Schädel mit einem Stein auf.“

Ein von Wut entstelltes Gesicht empfand man als schön. Köpfe und Glieder von Feinden reichte man Kindern zum Spielen. Kanus taufte man mit Blut. Bei einem Überschuss an Menschenfleisch beschränkte man sich auf die Extremitäten und verscheuerte die Rümpfe. Späteren Reisenden stellt sich die Situation auf den Salomonen ganz anders dar. Sie schildern Völkerschaften von paradiesischer Gutmütigkeit, schnell erschrocken. Eine Glocke, die in Brest gegossen worden war, ging mit bestem Gruß ab nach London als Katastrophensouvenir.

Zweihundert Jahre später

Der Niedergang von Mannesmann war ein Menetekel. Siehe Daniel Goffarts Bilanz „Das Ende der Mittelschicht. Abschied von einem deutschen Erfolgsmodell“. Man hatte es versäumt, die Babyboomer als Generation Container in die bundesrepublikanische Nachkriegsgeschichte einziehen zu lassen. Eine Parade des (vergleichsweise leicht behebbaren) Mangels schloss sich dem Siegeszug der Leichtbauweise an. Jede Kommune verzweifelte in den 1960/70er Jahren am Bedarf und besserte im Containerstil nach. Die Kinderrepublik Westdeutschland platzte aus allen Nähten. Jeder Hort war überfüllt. Überall bildeten sich Schlangen.

Pensionierte, einst von Hitler persönlich in den Dienst gestellte Handarbeitslehrerinnen wurden reaktiviert, um in den Hochöfen der Bildungsreform zu verdampfen. Das war egal, hatten doch die Zukunftsfähigen die beste Zukunft aller Zeiten vor Augen. Die Renten waren sicher, und das Gesundheitswesen war kostenlos. In der Brandt-Ära erreichte der deutsche Wohlfahrtsstaat das skandinavische Niveau. Im Erfolg von Ikea offenbarte sich jene Ästhetik zwischen Prosperität und Pazifismus, die zur Epochensignatur avancierte. Helmut Schmidt begriff sich als Vorsitzender der Deutschland AG. Das war zunächst eine dem nationalistischen Pathos widersprechende Distanzformel, die sich dann aber verselbständigte.

„Ende der Neunzigerjahre wurde die Deutschland AG zerschlagen (Daniel Goffart).“ Ein informelles Konsortium kollabierte. Mit ihm „verschwand das ausbalancierte und konsensorientierte Modell des rheinischen Kapitalismus … An seine Stelle trat das Diktat des Shareholder Value (Daniel Goffart).“

CIA-Elevin - Das Liebesleben der Boomer

Aids kam zu spät, um die Boomer zu konditionieren. Als Aids um sich zu greifen begann, verhielten sie sich wie ausgewilderte Primaten, die zu lange in einem Tierpark gelebt hatten. Alle erlitten die Panikattacken nach ungeschütztem Verkehr.

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Ausgerechnet in Lyon fühlte sich Lolana ‚Lo‘ Plantagenêt so beschwingt und angehoben, wie sonst nur in Aix-en-Provence während des Theaterfestivals. Die in Finnland und Norwegen aufgewachsene CIA-Elevin teilte ein Hotelzimmer mit Cole von Pechstein. Wir fragen uns, geschah dies allein im Auftrag des Begehrens; während die Lyonerinnen und Lyoner im Rotwein-Gloom einander an den Lippen hingen.

Die toten Briefkästen des Internets

Wie einfach die toten Briefkästen der Netz-Keimzeit gestrickt waren. Man legte Nachrichten unter Entwürfe ab und überließ dem Angesprochenen die Zugangsdaten.

Sogar dem Geliebten gegenüber suchte Lo Augenblicke eines psychologischen Nachteils, so wie sie es auf der Farm gelernt hatte.

Den Feinschliff gibt es bis heute auf der Farm. Das rurale Refugium liegt irgendwo in Virginia. Da bildet die Agency solche Agentinnen aus, die mehr können müssen, als in der Rolle einer zivilen Botschaftsangehörigen nicht durchzufallen. Auf der Farm brachte man Lo Bump bei. So nennt man die Herbeiführung einer Begegnung unter den Anzeichen des Zufälligen.

Stets geht es darum, Erwartungen zu unterlaufen. Das Ziel glaubt dieses oder jenes zu sehen, obwohl es tatsächlich nur auf Bilder reagiert, die ihm suggestiv gezeigt werden.

Auch Cole glaubte, lediglich einer schwer Verliebten das Wasser zu reichen oder Feuer zu geben. Er selbst rauchte nicht.

Um den Faden an einer anderen Stelle aufzunehmen

Ein japanischer Ritter sah in einem japanischen Bauern so wenig seinesgleichen wie in einem japanischen Hund. Eine Nationalisierung der Gesellschaft auf allen Ebenen fand erst nach der erzwungenen Öffnung des Landes im 19. Jahrhundert statt. Der Homogenisierung der Gesellschaft folgte die Einführung einer bürgerlichen Verfassung im Geist des Code civil. Andere Monarchen bremsten den Fortschritt, Tenno Mutsuhito, der 1867 vierzehnjährig den Thron bestieg, seine Residenz von der ewigen Kaiserstadt Kyōto nach Edo verlegte und im Zuge der Meiji-Restauration einer westlich orientierten Oberschicht Raum gab, beschleunigte den Fortschritt, um eine Fremdherrschaft zu vermeiden. Zum ersten Mal in der Landesgeschichte war unter seinem Vater eine Invasion nicht vollständig abgewiesen worden.

China in Agonie vor Augen, suchten westliche Potentaten ihren Vorteil mit der Vorstellung, Japan ließe sich so einfach erniedrigen wie andere asiatische Staaten.

In Rekordzeit fand ein mittelalterlicher Militärstaat Anschluss an die globale Zukunft. Das Tempo war Staatsräson. Die Industrialisierung brachte die Mittel für eine Aufrüstung. Die Kriegsräte frohlockten: Wenn das nächste Mal ein amerikanisches Kanonenboot vorbeischwimmt, schießen wir es mit Gaijin-Knowhow zu Klump.

Um 1900 war Japan eine abgedeckte Feudalgesellschaft mit moderner Armee. Das Kastendenken verschmolz mit dem Nationalismus in den Kasernen.

Entkernung

Nun bemerkten Vordenker:innen der Hygiene, dass es auf Okinawa nicht nur viel mehr Hundertjährige gab als auf der Hauptinsel, sondern das da viele Greise geradezu grotesk fit waren.

Ansonsten galt Okinawa als rückständig.

Man bildete ein Komitee und stattete eine Delegation aus, die sich auf der Insel mit imperialer Attitüde umtat. Bald entdeckte man einen Zusammenhang zwischen der alerten Langlebigkeit und einer seit Jahrhunderten kultivierten Selbstverteidigung. Die Sache hieß noch nicht lange Karate. Man beauftragte Experten ein massentaugliches System daraus zu machen. Die Experten entkernten und verschulten Okinawa-Te. Das war der Anfang des Sportkarate.

Aus seinem traditionellen Mantel geschlagen, verlor Karate seine magische Wirkung. Karate wurde auf der Hauptinsel zum Orchideenfach. Wer etwas auf sich hielt, praktizierte Kendo.

“Karate does not have any one style. Karate molds an individual to be the only object of defense or offense and, through this, it teaches the fundamental concept of self-protection.” Kanken Toyama

Nach Jahren in japanischen Karateklöstern, war Cole noch nicht lange wieder in Europa. Im Bett erklärte er Lo:

„Diese bäurischen Burschen (auf Okinawa) waren nicht spitzfindig. Im Grunde haben sie einfach nur White Crane Gong-fu verhackstückt und auf den eigenen Typus zugeschnitten. Sie rangen wie die Mongolen, tranken wie die Russen*, waren lustig ohne Unterlass, und zeugten noch mit neunzig.“

*“It is necessary to drink alcohol and pursue other fun human activities. The art (Karate) of someone who is too serious has no flavor.” Choki Motobu

Cole sagte auch:

„Erst wenn du deine Hände abgehärtet hast, fängst du an, Karate zu begreifen.“

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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