Huldvolle Verachtung - Frei nach Wanda von Sacher-Masoch

#TexasText/Jamal Tuschick Die Ehrgeizigen des 19. Jahrhunderts gaben sich doch noch sehr viel mehr Mühe als Leute heutzutage, um sich in puncto psychologischer Fitness nichts nachsagen lassen zu müssen.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Sehen Sie ferner https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4505

Polnischer Pascha

Aurora und ihre Freundin Anna-Catherine Strebinger genießen die pikante Gastfreundschaft des weitgereisten und hoch aufgestiegenen polnischen Grafen Ladislaus Koszielski, der nach Jahrzehnten im militärischen und diplomatischen Dienst eines Sultans als Sultan von eigenen Gnaden - mit einer sagenhaften Prachtentfaltung - in der Steiermark auf Schloss Bertholdstein residiert. Während Aurora in dem osmanisch kostümierten Grandseigneur einen veritablen Mistkerl erkennt, und sich (wenigstens im ersten Durchgang) vor der dämonisch dimensionierten Persönlichkeit in Acht nimmt, strebt die auf mächtige Mistkerle fliegende Anna maximale Machtnähe an.

Am nächsten Morgen meldet Anna ihre Eroberung des Schlossherrn.

„(Sie stand) in einem weißen … (Nachthemd?) in der Balkontür, von der Sonne ganz durchschienen, so dass ich ihren schlanken kraftvollen Leib durch den feinen Stoff erkennen konnte.“

Ungestüm wirft Aurora der Freundin Leichtfertigkeit vor. Der Gebirgssultan verfüge über Frauen in orientalischer Manier. Anna habe sich preisgegeben. Jetzt rangiere sie unter Fernerliefen. Nun sei sie eine mehr, die auf einen Wink warte und dabei nichts mehr zu erwarten habe.

Anna widerspricht vehement. Sie wähnt sich auf der sicheren Seite des Geschehens. Der alte Scheich lebt mit tausend Ängsten. Jede Nacht erwartet er seine Ermordung. Um nicht im Schlaf übermannt zu werden, sichert er sich in raffinierter Weise mit Geheimtüren - und Gängen. Auch Anna besuchte er auf klandestinen Wegen. Sie empfing ihn furchtlos und voller Neugier. Trotzdem stimmt sie einer von Aurora vorgeschlagenen, überstürzten Abreise zu. Der Graf bittet sie, wenigstens das Mittagessen abzuwarten. Er zeigt sich zuvorkommend und rührt an nichts.

„Nicht das leiseste Zeichen von Vertrautheit war an … (Anna) wahrzunehmen; sie war mit dem Pascha nach dieser Nacht genauso wie vorher, nicht weil sie sich so stellte, sondern weil es wirklich so war. So wenig war ihr die Hingabe an einen Mann, dass dieser sich in nichts für sie dadurch veränderte, er stand ihr nicht näher - sie gab ihm nichts von sich und nahm nichts von ihm.

Wie das das Leben vereinfacht, dachte ich.“

Zuhause bereitet Aurora ihrem maladen Mann mit dem Schlossrapport und Reisebericht eine Enttäuschung. Wieder einmal zerschlägt sich für L. die Hoffnung, seine Frau könne ihm das Vergnügen der Zeugenschaft eines - mit einem Dritten energisch vollzogenen - Geschlechtsaktes gewähren.

„Ich brachte meinem Dichter wieder eine Enttäuschung nach Hause“, sagt sie selbst lapidar, aber nicht lieblos.

„Mit welcher Zähigkeit hielt (L.), trotz immer erneuerten Fehlschlagens, an seinen Wünschen und Hoffnungen fest! Mit welcher Leichtigkeit baute er für seine Chimären immer wieder scheinbar solide Unterlagen! Mit welchem tiefen Ernst sprach er davon! Ihm seine Phantasie zu erfüllen, das wäre etwas Großes, Erschütterndes.“

Emotionale Falle

Der Pascha schickt Anna ein Collier hinterher. Zum Boten macht er „eine der bösesten Zungen (von) Graz“. Wieder einen Grafen. Der Aristokrat versteht die Geste als ein superbes Beispiel für huldvolle Verachtung. Aurora fragt sich, wie sich Anna die Herabsetzung verdient hat.

Man setzt widersprüchliche Impulse so, dass sie eine Krise im Apperzeptionszentrum der Bearbeiteten auslösen. Das ist die Hardcorevariante. Die Softpowersolution sieht vor, Impulse so zu streuen, dass die Bearbeitete sie nicht zu ihrer (meinetwegen auch selbsttäuschenden) Beruhigung verarbeiten kann.

Ladislaus, der alte Stratege, verbindet das beleidigende Geschenk mit einer zweiten Einladung auf sein Schloss. Aurora, die den Grundkurs Psychotechniken 1 u. 2 geschwänzt hat, kapiert den im Grunde simplen Aufbau der emotionalen Falle nicht.

Psychologische Fitness/Finesse

„Welchen Grund hatte Sefer Pascha, Kathrin in dieser Weise herunterzusetzen, gerade jetzt, wo er sie eben wieder ... eingeladen hatte?“

Die Freundinnen regen sich gründlich auf. Dann kommt das Collier an, „und von dem ganzen Alarm (bleibt) nichts übrig … denn das Schmuckstück (besitzt) … einen rein archäologischen Wert“.

Mir gefällt diese Schote, sie verdient unsere ganze Aufmerksamkeit und Intelligenz. Die Ehrgeizigen des 19. Jahrhunderts gaben sich doch noch sehr viel mehr Mühe als Leute heutzutage, um sich in puncto psychologischer Fitness nichts nachsagen lassen zu müssen.

https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4503

und

https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4502

und

https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4501

und

https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4499

und

https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4498

und

https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4497

und

https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4496

und

https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4495

und

https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4494

und

https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4493

und

https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4492

und

https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4491

und

https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4490

und

https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4489

und

https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4488

und

https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4487

und

https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4486

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden