Ikonografie der Neuzeit

#TexasText/Jamal Tuschick Martina Clavadetscher, „Vor aller Augen“ - Die nachträgliche Verdunklung der Umgebung, aus der Cecilia hervorsticht, suggeriert einen (historisch haltlosen) Menetekel-Charakter

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„Sehen kommt vor Sprechen.“ John Berger

„Rubens hätte sein Lebtag lauter Bilder in der Art des Liebesgartens … malen und seine Zeitgenossen damit vor Entzücken töricht machen können.“ Jacob Burckhardt

Retrospektive einer Unsterblichen

Für griechische Denkerinnen und Denker war die bildende Kunst Banausenwerk. Es ergab sich eine Feindschaft, insofern die Kunst den Mythos verherrlichte und die Philosophie das „griechische Bewusstsein“ vom Mythos frei wissen wollte. Bild und Statue dienten Kulten. Plato verlangte eine gesetzliche Regelung des Privatbesitzes von Devotionalien.

„Keiner (sollte) Heiligtümer in seinem Haus haben.“

Zitiert nach Jacob Burckhardt.

In der Renaissance erwachte das künstlerische Selbstbewusstsein auf eine nachwirkende Weise. Wir betrachten die Kunstgeschichte als Galerie epochemachender Künstlerinnen und Künstler. Zwar sind es Modelle, die das kollektive Gedächtnis bebildern. Doch die Wertmarken ergeben sich aus den Namen der Malerinnen und Maler. Martina Clavadetscher verändert die Perspektive. In neunzehn poetischen Akten richtet sie unsere Aufmerksamkeit auf die Dargestellten.

Martina Clavadetscher, „Vor aller Augen“, Unionsverlag, 234 Seiten, 24,-

1464 stiftete König Ferdinand von Neapel den Hermelinorden als ritterliche Auszeichnung in Nachahmung eines französischen Vorbildes. Siehe Ordre de l‘hermine. Mit dem Wappentier assoziierte die Renaissance Reinheit, Fruchtbarkeit und Kampfgeist. Die Devise „Malo mori quam foedari - Lieber sterben als (dem Sinn nach) verunstaltet leben“ folgt einer Nobilitierung des Wiesels zur Edelkreatur. So kursierte der von Ferdinand mit dem Hermelinorden geehrte Mailänder Herzog Ludovico Sforza (1452 -1508) als „weißes Hermelin“. Darauf verweist das titelgebende Hermelin in einem von Leonardo da Vinci 1489/90 geschaffenen Gemälde. Im Zentrum steht Cecilia Gallerani (1473 - 1536). Die Mätresse des Mächtigsten zählte zu den gebildeten Erscheinungen am Mailänder Hof. Da Vinci porträtierte die schwangere Poetin. Cecilia gebar den illegitimen Fürstenspross, als sich Ludovico standesgemäß mit Beatrice d‘Este verheiratete. Die Braut erzwang die Distanzierung ihres Mannes von der Geliebten. Cecilia musste mit dem kleinen Caesar den engsten Kreis der Herrschaft verlassen. Man verpasste ihr Lodovico Carminati de‘ Brambilla als Gatten und stellte sie komfortabel kalt.

Die „Dame mit dem Hermelin“ geriet in Cecilias Besitz und gehörte bis zu ihrem Tod zum Hausstand. Im 19. Jahrhundert erwarb Adam J. Czartoryski das Werk. Er vermachte es seiner Mutter, die Veränderungen an dem Bild vornehmen ließ. Heute hängt das mit 350 Millionen Euro versicherte Bild (Quelle) im Krakauer Nationalmuseum.

Clavadetscher autorisiert das Modell und installiert es als Erzählerin, das in ein Konkurrenzverhältnis zur erzählenden Malerei tritt. Die Autorin imaginiert Cecilias Sicht als Retrospektive einer Unsterblichen. Den von Intrigen beherrschten Mailänder Hof memoriert das Ex-Modell eher beiläufig.

Cecilia erinnert die Langeweile während der Sitzungen. Sie bedauert den Verlust ihrer Werke.

„Meine geschriebenen Worte hat niemand aufbewahrt.“

Nicht jedes Bilddetail verdankt sich der Intension des Urhebers. Die nachträgliche Verdunklung der Umgebung, aus der Cecilia hervorsticht, suggeriert einen (historisch haltlosen) Menetekel-Charakter. Auch das kritisiert Cecilia: nämlich den Verlust des vermutlich von da Vinci erfundenen Sfumato. Die allegorischen Übersetzungen fürstlicher Macht und Zwiespältigkeit offenbaren sich in sprechenden Äquivalenten. Das Hermelin, sprich der Herzog, schmiegt sich zwar an Cecilia, seine Aufmerksamkeit gilt aber Vorgängen außerhalb der Schilderung. Cecilia paart eine Geste der Verbundenheit mit einer Konzentration, die über ihre Zärtlichkeit hinausgeht. Sie leuchtet wie unter einem guten Stern. Ihre von Clavadetscher soufflierten Gedanken und Gefühle suggerieren Tatkraft und Entschlossenheit. Die Einlassungen kontern eine Geduldpose. Cecilia gestaltet ihre Verhältnisse. Sie nimmt nicht mehr als das Nötigste hin. Die Suprematie der Rivalin fordert sie heraus. Ihre Klage hilft besser zu verstehen, dass da Vinci eine relevante, von Hoffnungen angetriebene Akteurin schildert.

Cecilias Schwangerschaft kommt die Bedeutung eines Pfands zu.

Porträtähnlichkeit ist im 15. Jahrhundert erst wieder seit hundert Jahren eine Selbstverständlichkeit. In den Jahrhunderten des vergessenen Wissens entsprachen Rang- und Würdezeichen dem persönlichsten Ausdruck. Die Physionomie hielt man wohl für nicht besonders aussagekräftig. In Italien vollzog sich die Wandlung von der repräsentativen Standesdarstellung zur lebenswahren Zeichnung. Trotzdem entsprach das Einzelporträt nicht der Mailänder Mode, als da Vinci Cecilia malte.

Morgen mehr.

Aus der Ankündigung

Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge, die Dame mit dem Hermelin, Frauen auf weltberühmten Gemälden von Leonardo da Vinci, Vermeer, Rembrandt, Courbet, Schiele, Munch. Wir sehen ihre Körper, ihre Blicke, ihre Kleidung, gebannt oder verbannt in einen ewigen Augenblick.

Doch wer waren sie außerhalb dieses Moments? Martina Clavadetscher ist den Hinweisen ihrer Leben nachgegangen, lässt die Frauen erzählen und gibt ihnen so eine Stimme zurück.

»Ohne diese Frauen, gäbe es kein Staunen, kein Schauen – mehr noch, ohne diese Frauen wäre die Kunstgeschichte, so wie wir sie heute kennen, undenkbar. Diese Frauen waren immer auch Mitarbeiterinnen, Künstlerinnen, Unterstützerinnen, Auslöser, ein Spiegel der Zeit, Ikonen, Inspiration, Partnerinnen, Retterinnen.« Martina Clavadetscher

Zur Autorin

Martina Clavadetscher, geboren 1979, ist Schriftstellerin und Dramatikerin. Nach ihrem Studium der Deutschen Literatur, Linguistik und Philosophie arbeitete sie für diverse deutschsprachige Theater, gewann den Essener Autorenpreis und war für den Heidelberger Stückemarkt nominiert. Für ihren Roman Die Erfindung des Ungehorsams erhielt sie 2021 den Schweizer Buchpreis. Sie lebt in der Schweiz.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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