Jamal Tuschick - Gehobene Mangelwirtschaft

#TexasText/Jamal Tuschick „Wir sind von Arbeitsmaterial umgeben. Es wartet an jeder Ecke auf uns, findet sich in Gesprächen, in der Natur, in zufälligen Begegnungen oder bereits existierenden Kunstwerken.“ Rick Rubin

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Sehen Sie ferner https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4545

und

https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4544

Heiner Müller kolportiert Richard Wagner: „Die Revolution interessiert mich erst wieder, wenn Paris in Flammen steht.“

*

„Rückblickend wird ja oft über Mangel gesprochen. Aber zuweilen gab es auch zu viel - Pflaumen, Blumenkohl, Gurken, Weißkohl, Geflügel.“

Herbert Pilz über die Leipziger Gastronomie zu DDR-Zeiten, zitiert nach „Alte Gastronomen - Seit 38 Jahren trifft sich der Stammtisch der Alten Gastronomen“ von Cornelia Lachmann, erschienen am 22.05. 2015 in der Leipziger Volkszeitung, Quelle

Was zuvor geschah

Der beruflich ständig in der DDR beschäftigte und deshalb mit einem Dauervisum ausgestattete Chemielaborant und Berlin Ranger Tillmann Eisenstein begegnet Anfang der Achtzigerjahre auf einer Fahrt von Westberlin nach Leipzig der im Modeinstitut der DDR arbeitenden Designerin Arina Nikola. Die beiden gefallen einander in ihren Autos: einem Ford Mustang Fastback GT 390 in Dark Highland Green. Steve McQueen strapaziert den Schlitten als Lieutenant Frank Bullitt in der längsten Verfolgungsjagd der Filmgeschichte. Das Auto ist Tillmanns Ein und Alles. Arina cruist im Volvo 244 DL, einem Sondermodell, produziert seit 1977 für die DDR, eingeführt von Genex. Listenpreis zweiundvierzigtausend DDR-Mark. In der öffentlichen Wahrnehmung kursiert das Fahrzeug als Künstlerkutsche. Gebaut wird es in Kalmar nach einem revolutionären Gruppen-Handarbeitskonzept.

Arina lädt Tillmann in der Zeichensprache zu einer Kaffeepause ein. In einer Mitropa-Gaststätte erkennt das Flirtpaar, dass fürs Erste alles passt.

Gehobene Mangelwirtschaft - So geht es weiter

Ich stelle das Bild scharf. Den verdunstenden Hintergrund liefert die Mitropa-Durchschnittlichkeit, das Design im Stil gehobener Mangelwirtschaft. Da sitze ich mit einer Frau, die aussieht wie ein Star der Wohlstandsgesellschaft, ihren Lebensunterhalt jedoch mit einer normalen Beschäftigung bestreitet. Arina Nikola hat mir nichts voraus. Im Gegenteil, ich wähne mich im Vorteil.

Offenbar ist Arina wenig ängstlich. Ich sage mir, ganz doofer Wessi (ein Wort, das es noch nicht gibt), sie begehrt gegen vorgestanzte Lebensmuster auf. Sie lässt sich nicht in ein Korsett des Wohlverhaltens nach dunkeldeutschen Vorstellungen pressen. So betrachte ich sie in der ersten Stunde unserer Bekanntschaft.

Schlagartig bin ich verliebt.

Arina behauptet, noch nie einem Mann Avancen gemacht zu haben. Das glaube ich gern. Wir tauschen unsere Visitenkarten und versprechen uns ein Rendezvous vor Ablauf der nächsten vierundzwanzig Stunden. Wir wollen uns zum Abendessen in der Mitropa-Gaststätte im Leipziger Hauptbahnhof. Arinas Hand wandert über den Tisch und besiegelt mit einer zärtlichen Geste den Vorvertrag unserer Verbundenheit. Warum soll nicht das Schönste aus heiterem Himmel passieren? Ich bin bereit für das Glück, und in Bereitschaft sein, ist bekanntlich alles.

In Leipzig wohnt Arina bei einer Freundin: „Barbara ist eine Tolle, bei der hüpfen die Typen vor Begeisterung im Dreieck.“ Da will sie kurz vorbei, Hallo sagen, sich frisch machen und dann gleich weiter zum Stand. Ich werde versuchen, morgen tagsüber wenigstens vorbeizuschauen, obwohl das schwierig werden könnte. Die Messestände der Rosenqvist & Longwood-Deuterium-AG in Halle 1 und im Dresdener Hof binden mich mit Präsenzpflichten und Terminen, so mit dem DDR-Außenhandelsbetrieb Germed, zuständig für den Import von Arzneimitteln.

Margit Schönbrunn betreut mit mir den Stand. Die Kollegin ist Pharmareferentin und besucht in ihrem beruflichen Alltag niedergelassene Ärzt:innen.

Die Messe beginnt mit einem aufwendig gesicherten Rundgang des Staatsratsvorsitzenden. Der Besuch mit Entourage entspricht einem jährlich wiederkehrenden Ritual und beinah einem Staatsakt. Margit und ich müssen deswegen besonders pünktlich auf unserem Posten sein. Anderenfalls kämen wir noch nicht einmal in die Halle. Sie wird abgesperrt, solange die Nomenklatura sich die Ehre gibt. Das dauert eine Stunde, dann beginnt das normale Messegeschäft. Margit und ich lassen es ruhig angehen. Wir sind uns gewogen. Wir begegnen uns wie Partyraucher:innen, die bei besonderen Anlässen ein halbes Päckchen weg quarzen, den Rest wegschmeißen, und keinen Gedanken an Zigaretten verschwenden. So könnten wir Sex haben. Ich schätze, eines Tages wird es passieren.

Wir stimmen uns mit Sekt und Keksen ein. Margit erzählt von einem Karsten und von ihrer Stute Morgan. Ich erzähle von meiner Autobahnbekanntschaft. Margit nimmt die Geschichte spöttisch auf. Verschwörerisch verspricht sie, mich auf der Messe zu entlasten, falls es zu spontanem Liebesleben kommen sollte. Bei dem Tempo, das Arina auf der Transitstrecke vorgelegt hat, lässt sich ein Messeabenteuer nicht ausschließen. Ich verliere nicht leicht den Kopf, wer mich kennt, weiß, dass ich eher zurückhaltend als draufgängerisch bin, doch in diesem Fall kann ich für nichts garantieren. - Und das will ich auch gar nicht. Manche Feste muss man feiern, wie sie fallen.

Am Nachmittag besuche ich Arina an ihrem Stand im „Dresdner Hof“. Sie wird belagert, ich dringe kaum zu ihr vor. Das macht mir schon wieder Eindruck - eine schwer beschäftigte Frau, die sich für mich den Abend freihält. Arina und ich präzisieren im Getümmel unsere Verabredung. Dazu bald mehr.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden