Joy Williams - Polierter Schrott

#TexasText/Jamal Tuschick Joy Williams, Stories - Dwight strotzt vor konsistenter Eindimensionalität. Er begleitet Lucys Entwicklung mit diskreten Manövern.

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Polierter Schrott

„Die Gefühle, die in politischen Beziehungen mitschwingen, sollte man nie unterschätzen.“ Giuliano Da Empoli

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„Die Zerstörung besteht im … Weitermachen.“ Heiner Müller erinnerte den Satz als Gewinn aus dem ersten Kontakt mit Brechts Werk in Form eines Funkfeatures in den späten 1940er Jahren

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“Nearly all genetic variants … have … ancient roots that … trace back to evolutionary events long before (the human’s journey starts).” Benton, ML, Abraham, A., LaBella, AL et al., The influence of evolutionary history on human health and disease, https://doi.org/10.1038/s41576-020-00305-9

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“All of the body’s reactions have a genetic root that goes back billions of years.” David A. Sinclair

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“I can’t see him lose.” Cus d’Amato über den adoleszenten Mike Tyson

Namenlose Landschaften und idyllische Brachen

Gravitationslose Biografien in namenlosen Landschaften - Leere Räume mit surrealen Säumen - Das assoziiere ich mit Joy Williams‘ amerikanischen Szenen. Die Autorin kombiniert topografische Präzision mit vager Geografie. Eine Siedlung im waldreichen Nirgendwo dient sieben Müttern berühmter Mörder:innen als Refugium. Eine stirbt an Krebs, dann waren es nur noch sechs. Sie erschaudern künstlich, während sie sich erzählen, dass Gegenstände aus dem vormaligen Besitz ihrer Kinder auf Ebay als Devotionalien gehandelt werden. In einem David-Hockney-A-Bigger-Splash-Arrangement leuchten Grapefruits „anmutig zwischen … von Spinnmilben- und Blattlausbefall gekräuselt(en Blättern)“.

Alles verfällt, zerrinnt und löst sich auf. Williams‘ Prosa evoziert eine westliche Vorstadt, so flach wie ein Bildschirm. „Heiter und hohl“ taumelt das Personal durch idyllische Brachen. Im Fokus der Autorin nehmen die Unsichtbaren unter uns Gestalt an.

Jack Dewayne unterrichtet forensische Anthropologie an einer staatlichen Universität. In seiner Aura gedeiht ein Kult. Jünger:innen, die sich „Deweenies“ nennen, scharen sich um ihn. Seine Freundin muss sich von Wildfremden erzählen lassen, was für ein wunderbarer Mann ihr Jack ist. Miriam registriert den Einkauf einer Verehrerin: „Eine große Tüte Vogelfutter und eine Flasche Wodka.“

Williams lässt die kleinstädtische Provinz hochleben. Vertrautheit und Verdruss schließen ihre Pakte. Die Gemeinde findet Jack als Miriams Partner zu bescheiden.

„Jack hätte eine bessere Wahl treffen können.“

In manchen Stunden schließt sich der Umschwärmte dem populistischen Urteil an.

Fürsorgliche Belagerung/Konsistente Eindimensionalität

Beim Anblick eines Babys namens Lucy verkündigt der fünfundzwanzigjährige Frauenschwarm Dwight in der Gegenwart seiner aktuellen Freundin:

„Du wirst mal meine Frau.“

Die Autorin erklärt die Prophetie nicht zum intuitiven Akt. Joy Williams schildert keinen Durchbruch auf die magische Seite, wo Sehen Transzendenz bedeutet.

Joy Williams, Stories, übersetzt von Brigitte Jakobeit und Melanie Walz, dtv, 25,-

Dwight strotzt vor konsistenter Eindimensionalität. Er begleitet Lucys Entwicklung mit diskreten Manövern. Die Heranwachsende goutiert die fürsorgliche Belagerung. Ein stoisches Wesen gestattet ihr keine Aufregung. Dwight Arrangements passen Lucy. Die beiden heiraten, kaufen ein Haus und richten es ein.

„Alles war gut.“

Dwight folgt ein Tross von Verehrerinnen, die alle einmal mit ihm liiert waren. In Lucys Haushalt erinnern Gegenstände an Dwights weitläufiges und ausschweifendes Vorleben; so wie der Teppich, den Dwight und Caroline aus Yucatán mitbrachten. Lucy kann Caroline nicht ausstehen, während sie mit Daisy befreundet ist. Daisy hat ein Bein verloren.

Peacock Blue

„Hätte jemand, zum Beispiel Gott, Daisy gefragt, was sie lieber wiederhätte, ihr Bein oder Dwight, hätte sie gesagt: ‚Dwight‘.“

Lucy fasziniert die Anhänglichkeit der Verflossenen. Die viel Jüngere verbindet nichts mit ihren an Dwight gescheiterten Vorgängerinnen.

Jede trug sich in dieser Konstellation mit Familiengründungsabsichten. Williams lässt weitgehend offen, wie die Generationsgenossinnen aufeinander reagieren. Für sie war Dwight lange ein Mann, von dem sich sagen ließ, was Cus d’Amato über Mike Tyson sagte, bevor sein Zögling zum ersten Mal Weltmeister wurde:

„Ich sehe nicht, dass/wie er verlieren könnte.“

Im Verhältnis zu Lucy erscheinen sie beinah wie Verschworene. Stellen die Dwights Glück komplizenhaft über ihr eigenes?

Jede bleibt mit jeder auf Tuchfühlung. In diesen gemäßigten Sozialbreiten legt sich Dwight einen schwarzen Ford Thunderbird zu. Das beinah antike Auto entpuppt sich als Rostlaube mit Weißwandreifen. Dwight und Lucy konsultieren einschlägige Koryphäen. Ein Spezialist rät dazu, der blauen Originallackierung Tribut zu zollen. Sämtliche Experten empfehlen ein Ende mit Schrecken. Dwight müsse die Wertlosigkeit seiner Anschaffung anerkennen, um nicht bei dem hoffnungslosen Unterfangen einer Restauration viel Geld zu verlieren.

Dwight, Jahrzehnte die zufriedenstellende Männlichkeit in Person, verliert seine Souveränität just in diesem Lebensaugenblick. Von jetzt auf gleich hört er auf, smart zu sein. Die Regression ergreift Besitz von ihm.

Williams‘ Erzählfluss mäandert um den narrativen Glutkern. Ich halte mich mit einer auf wenigen Seiten gerafften Geschichte auf. Ich könnte sie zu einem Roman ausdünnen. Dwight zieht den Fehlkauf aus dem Straßenverkehr. Er stellt ihn ins Wohnzimmer, wo er allmählich zum Dorn in Lucys Augen wird. Sie will die Kiste da nicht. Der polierte Schrott avanciert zum Menetekel. Er illustriert den Verfall des Hausherrn auf offener Bühne, während in Lucy der Kinderwunsch zum Diktator aufsteigt.

Dwight ist am Ende seiner Verschleppungsmöglichkeiten angekommen. Er baut ab. Lucy weiß nicht, wie sich Alter anfühlt. Noch lehnt sie die Angebote der Dominanz ab. Ich weiß schon, dass ihr gar nichts anderes übrigbleibt, als demnächst das Heft in die Hand zu nehmen.

Astrologischer Alarm

Die Autorin schildert Verhältnisse von grotesker Dürftigkeit und notdürftiger Normalität. In der ersten Geschichte holt ein Prediger kurz vor Weihnachten seine Frau (zum Sterben in vertrauter Umgebung) aus dem Krankenhaus. Am Ende seiner Lebenslaufbahn erwartet das Paar nur noch die Tochter der einzigen Tochter. Die Mutter des sechs Monate alten Kindes folgte einem Befehl der Sterne nach Mexiko. Das Baby tröstet die Alten mit seiner schieren Existenz.

Joy Williams erzählt vom leergedroschenen Stroh der professionellen Nächstenliebe. Die amtliche Zugänglichkeit hat den Prediger ausgeleiert wie ein altes Wäschegummi. Widerstandslos seufzt er sich durch seine letzten Pflichten. Joy Williams charakterisiert ihn so:

„Seine Liebe ist viel zu offensichtlich und weckt Gleichgültigkeit. Er ähnelt einem Tier in einem Wanderzirkus, dass aufgrund einer Missbildung ein lebenswichtiges Organ außen auf der Haut trägt, peinlich und bedauernswert, etwas, dass verborgen bleiben … sollte.“

Scheidungsstress

„Der kleine Winter“ - Die Titelzeile der zweiten Geschichte zitiert eine Kindheitserinnerung.

„Als sie klein war, hatten sie an einem Ort gelebt, wo zuerst immer der kleine Winter kam.“

Der „kleine Winter“ war ein Präludium des „großen Winters“. Dazwischen drängte sich eine - manchmal Wochen währende - Schönwetterperiode.

Gloria, 40, memoriert das kurz vor Ende einer langen Anreise zu ihrer Freundin Jean Crawley. Die verregnete letzte Etappe absolviert sie im Mietwagen. Voraus gingen ein Flug, ein öder Hotelzimmerabend mit zu viel Alkohol und ein unerfreulicher Hotelzimmervormittag mit Kopfschmerzen.

Nach einer Hirntumordiagnose lebt Gloria mit der Aussicht auf ihren Tod in naher Zukunft. Eine übertünchte Depression regiert die Wahrnehmung. In einem Klostersouvenirshop deckt sich Gloria mit einem Gastgeschenk ein. Sie kauft einen vor Ort von Nonnen hergestellten, von dem Mönch am Schalter brachial stumpf angepriesenen Amaretto.

Jean verdaut gerade ihre vierte Scheidung. Sie existiert in (bis zur Klospülung) dysfunktionalen Verhältnissen, die sie dämlich-munter moderiert. Der helle Wahnsinn eines aus den Fugen geratenen Daseins verkleinert sich in Jeans Darstellungen zu geringfügigen Betriebsstörungen.

Die Freundinnen besuchen einen von Jeans Ex-Männern. Bill schnitzt Enten. Gerade geht er von der naturalistischen zur dramatischen Phase über. Er heroisiert die Banalität der Holzarbeiten. Williams schildert eine zwischen handwerklicher Lust und schierer Manie ins Leere ragende Leidenschaft. Offenbar kann in dieser Welt nur etwas Aberwitziges in den Enteignungs- und Entfremdungsprozessen Bestandskraft beweisen. Mich ließ das an einen Satz von Vito Pandolfi denken:

„Das Leben der Menschen (erscheint) als Aufstand des Unterbewusstseins … gegen die sozialen und natürlichen Fesseln …“

Die Einsicht wäre ein passendes Motto für diesen Erzählband.

Williams gibt dem Elend einen Drall ins Surreale. Jeans Tochter Gwendal erscheint als Neunmalkluge merkwürdig abgebrüht. Den delirierenden Erwachsenen dreht sie eine lange Nase nach der nächsten.

Keimender Überdruss - Zur dritten Geschichte

Am Ende eines perfekten Sommers reisen Danica Anderson und Jane Muirhead im Autozug von der Ostküste nach Florida. Janes Eltern begleiten die Zehnjährigen, die sich in „chaotischen Nestern“ eingerichtet haben. Die Mädchen stecken in einer komplizierten Freundschaft. Der Überdruss keimt auf beiden Seiten. Auch Mr und Mrs Muirhead streiten „so erbittert wie Vipern“. Sie kultivieren einen „pompösen“ Aushandlungsstil. „Eine dumme Bemerkung von vor fünfzehn Jahren“ lässt sie unter die Decke gehen. Völlig ab geht dem Paar „Nachsicht, Barmherzigkeit und Gemeinschaftsgeist“. Es lebt auf großen Fuß und tröstet sich mit Extravaganzen. Die Muirheads sind einmal nur deshalb nach Mexiko geflogen, um im Panteón de San Fernando „Kacheln für (einen) Vorraum“ zu kaufen oder vielleicht auch zu stehlen. Dazu bald mehr.

Aus der Ankündigung

Eine Nacht lang erkunden zwei Mädchen einen Zug mit Bar und Zauberbühne und lernen dabei ihr künftiges Leben kennen. Eine Frau, ratlos, plötzlich schlaflos, wird von der Faszination für eine nächtliche Radiosendung erfasst, in der, so glaubt sie, all ihre Fragen gelöst werden könnten. Von der Gesellschaft geächtet, schließen sich die Mütter mehrerer verurteilter Mörder zu einem Außenseiterclub zusammen. Seite für Seite, Satz für Satz führen uns diese Geschichten ins Unvorhersehbare hinein, verzweigen sich in die Tiefe wie Romane: unverwechselbar im Ton, beunruhigend und komisch zugleich.

Seit Langem feiert man Joy Williams als eine der Großen der amerikanischen Literatur. ›Stories‹ beweist ihre absolute Meisterschaft.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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