Kalifornische Verbannung

#TexasText/Jamal Tuschick Rilke repräsentierte seine Epoche nicht. Vielmehr wirkte er abgeschnitten; gefangen in einem Kokon des Eigensinns. Zagajewski beschreibt ihn als „kalligrafisches Fragezeichen am Rande der Geschichte“.

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Irgendwo sagt Jorge Luis Borges, er habe nie aus der Bibliothek seines Vaters in Buenos Aires herausgefunden. Er arbeitete als Bibliothekar in einer Zeit „soliden Unglücks“. Ab 1955 leitete Borges die argentinische Nationalbibliothek.

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Philoktet, Waffenträger und Erbe des Herakles, wird nach einem Schlangenbiss zum Aussätzigen der griechischen Heerscharen.

„Ihn fraß am Fuß eine Wunde.“

Kapitän Odysseus lässt den Argonauten auf Lemnos zurück. So zieht er sich den Hass des Helden zu. Schließlich wird Philoktet wieder gebraucht, Odysseus schickt Neoptolemos (Sohn des Achill) vor, um einen Verratenen mit Verrat an die trojanische Front zu locken. Das erzählt Sophokles in einem sagenhaften Drama. In jeder Sage steckt ein psychologischer Glutkern. „Philoktetes“ handelt von dem, was eine Gemeinschaft verbindet und hochhält, so dass sie nicht verwahrlost an den Stränden niedriger Beweggründe. Die Ambivalenz der Geschichte bleibt interessant und insofern die Frage, ob Odysseus als Repräsentant der griechischen Staatsräson nicht doch sehr viel mehr ist als bloß infam.

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In ihrem Aufsatz Bruderpaar der Literatur untersucht Ira Klinkenbusch das Klischee vom scharfkantigen Gegensatz der Brüder Heinrich und Thomas Mann. Im Gegensatz zu Klinkenbusch bearbeitet Adam Zagajewski überkommene Bilder von einer affektiven Unversöhnlichkeit, die nur unter dem Druck des Exils gemildert werden konnte. Hitler brachte die Brüder zwar zusammen, sorgte aber nicht für Nähe. Ich glaube, dass Heinrich und Thomas sich bis zum Schluss nicht riechen konnten. In Kalifornien bewahrten sie sich vor den Peinlichkeiten offen ausgetragener Gegnerschaft in den Rüstungen eisiger Höflichkeit. Heinrich blieb unterlegen. In seiner Frau Nelly* fand er keine Verstärkung im Kampf gegen den Klan.

*„Nelly Mann ... kam aus einfachsten sozialen Verhältnissen und geriet durch ihre Verbindung mit dem Schriftsteller Heinrich Mann in die betont standesbewusste Familie um den Nobelpreisträger Thomas Mann.“ Wikipedia

Dichterinnen des Dekors

Heinrich verliert die Erstgeborenenrechte an den Erfolg des jüngeren Bruders. Heinrich schöpft aus dem vollen Bohemienbrunnen im Einklang mit den Kräften der Zukunft. Der alltäglichste Asphalteros ist ihm ein ewiges Wedekind‘sches Frühlings Erwachen; während der so anders gelagerte Bruder die Konventionen als bürgerliches Bollwerk feiert.

Wer weiß, wo Thomas Mann politisch ohne Hitler gelandet wäre. Er war ein Verspäteter in mancher Hinsicht. Reich-Ranicki hielt Thomas Manns Werk für einen Höhepunkt des literarischen 19. Jahrhunderts.

Im Exil liegen die Verhältnisse schließlich so, dass Heinrich vom Vergessen bedroht wird und in der Rolle eines Alimentierten seelisch auf Grund läuft. Seine Partnerin, „eine Person der unteren Schichten“, passt nicht ins Bild der Edelemigrantinnen und Edelemigranten rund um den Meister vom Zauberberg in der „kalifornischen Verbannung“.

Zagajewski erzählt das mit großer Sympathie für den Underdog Heinrich. Er schildert die Geschwisterspannung mit einer schwebenden Ratlosigkeit angesichts des Gefälles. Der Jüngere agiert als „Liebling des Schicksals“ und „Nachahmer Goethes“ ungemein theatralisch und weit weniger charmant als der aufgeknöpfte Heinrich mit seiner Bonvivant-Konzilianz.

Zündkörper der Erinnerung

„Kein Wort steht still, sondern es rückt immer durch den Gebrauch von seinem anfänglichen Platz, eher hinab als hinauf, eher ins Schlechtere als ins Bessere, ins Engere als Weitere, und an der Wandelbarkeit des Wortes lässt sich die Wandelbarkeit der Begriffe erkennen.“ Goethe

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Solange wir Einfluss auf das Geschehen der Welt haben, entstehen aus Widersprüchen Räume. Zagajewski liefert ein schönes Beispiel. Der Heranwachsende erwägt im Zustand der Befreiung 1945 einen Rachefeldzug gegen die Deutschen.

„Als Kind hasste ich die Deutschen ... und schmiedete sogar Pläne eines schnellen militärischen Rachefeldzug.“

Gleichzeitig lässt er sich von der deutschen Literatur einnehmen.

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Goethe strotzt im Fett seiner Patriziergewissheiten. Er „erneuert die deutsche Einbildungskraft“ (Adam Zagajewski). Rilke erfindet sich einen Stammbaum und erdichtet sich seine Bedeutung. Zagajewski wähnt Rilke auf einer „unbändigen Jagd nach Erfüllung“.

Geografie als Schicksal - Goethes biografische Geografie

Frankfurt und Weimar sind epochale Hotspots. Noch in den Topografien spiegelt sich Goethes titanische Geltung.

„Des Menschen Wohnung ist sein halbes Leben.“ Goethe in einem Brief an den Maler und Freund Johann Heinrich Meyer am 30. Dezember 1795

„Im Haus am Frauenplan lebte und wirkte Goethe seit seinem Einzug als Mieter 1782 fast 50 Jahre lang. Für den Dichter und Staatsmann sowie seine Familie war es weit mehr als eine Wohn- und Arbeitsstätte.“ Quelle: Goethes Wohnhaus

Zagajewski schildert Rilke als Obdachlosen, jedenfalls Unbehausten bis hin zur geografisch marginalen Herkunft. Zwar kommt Rilke in Prag zur Welt. Doch wird er da als Österreicher geboren. Auf der Achse Wien - Prag ist Prag inferior, während Goethes Geburtsstadt Frankfurt am Main eine altweltliche Potenz ersten Ranges darstellt.

Goethe empfängt „Gäste aus den entlegensten Winkeln“. Er hält Hof, und er hält durch. Er hört nicht auf, präsidial zu wirken.

Rilke startet als Zögling in den Habsburger Militärschulen St. Pölten und (Musils Erziehungsknast) Mährisch-Weißkirchen. 1891 erlöst ihn ein Attest. So kurios es klingt, Rilke passiert danach nur noch einmal etwas, das ihn aus der Dichterbahn wirft. 1915 trifft den Vierzigjährigen die Einberufung. Nach ein paar Wochen Drill kommandiert man ihn ab zu einer zivilen Tätigkeit in einem Kriegsarchiv. Stefan Zweig begegnet Rilke da als ein anderer Zivildienstleistender.

Rilke eiert vor sich hin. Er empfängt nicht, sondern muss selbst vorstellig werden und sich einladen lassen. Er ist „kein Minister wie Goethe. Kein Senator wie Yeats. Kein Diplomat wie Saint-John Perse“ (Zagajewski). Er begegnet auch keinem Staatsmann. Die Aristokraten, die zu seinen Gastgeberinnen und Gastgebern werden, sind die Nachkommen von Champions-League-Spielerinnen und -Spielern. Ihre Vermögen verbinden sich nicht mehr mit politischer Macht.

Kalligrafisches Fragezeichen

Rilke repräsentiert seine Epoche nicht. Vielmehr wirkt er abgeschnitten; gefangen in einem Kokon des Eigensinns. Zagajewski beschreibt ihn als „kalligrafisches Fragezeichen am Rande der Geschichte“.

Der Essayist sieht einen Feind der Industrialisierung. Zagajewski spricht von dem Opfer, das Rilke mit eiserner Disziplin bringt. Der Dichter existiert in einem Wartesaal. Darin erwartet er die Ankunft seiner Gedichte, deren Natur er vorausahnt.

So schreibt ein Dichter über einen Dichter.

Zitiert aus Adam Zagajewski, „Poesie für Anfänger“, Essays, aus dem Polnischen von Renate Schmidgall, Edition Akzente Hanser, 24,-

Glänzender Paria

Stéphane Mallarmé unterscheidet Dichter des Dekors, von solchen, die sich für die Frage qu'est-ce que ça veut dire interessieren. Die Frage entspricht einem oppositionellen Reflex. Das Gespräch über die Psychologie der Dinge ist ein Absonderungsprodukt. Die Künstlerinnen und Künstler in Mallarmés Milieu verlieren gerade ihre bürgerliche Fasson. Als Flaneurinnen und Flaneure werden sie zu glänzenden Parias. Sie exilieren in die Kunst und hassen die Bourgeoisie, deren Geschöpfe sie trotzdem bleiben.

Der Typus verachtet den Gesellschaftsmotor Industrialisierung. Er besteht auf l‘art pour l‘art. Er führt sein Leben beinah frei von Erschütterungen. Globale Verwerfungen streifen ihn auf dem Weg zu einer abgewendeten Kasernierung.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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