Kaplan Tayfun - Parfümierter Rotz

#TexasText/Jamal Tuschick Höhere türkische Töchter am Nebentisch. Wahrscheinlich verbringen sie gestohlene Zeit. Ihre Mappen passen Ton in Ton zu Lederjacken, die Stühle vor einer Besetzung sorgfältig bewahren.

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„Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei.“ Walter Benjamin

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„Die Nachwelt ist eine Fata Morgana.“ Hans Magnus Enzensberger

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„Mein Ich, eine ewig debattierende Menge. Manchmal möchte ich die Glocke schwingen, den Hut aufsetzen und die Sitzung verlassen.“ André Gide

Höhere türkische Töchter am Nebentisch. Wahrscheinlich verbringen sie gestohlene Zeit. Ihre Mappen passen Ton in Ton zu Lederjacken, die Stühle vor einer Besetzung sorgfältig bewahren.
Die Mädchen würden eher sterben, als sich die Blöße einer unschönen Haltung zu geben. Ihre Disziplin ist kaum zu glauben. Wie vor einer Kamera: schnattern sie konzentriert und genüsslich, bis Kaplan sich einschaltet. Er will einen Stift. (Er will stören.) Die Mädchen öffnen zuvorkommend Etuis und bieten Kugelschreiber als Geschenke an.

Können Sie behalten.

Kaplan wendet sich ab und hört, dass sie deutsch reden, bis die Störung vergessen ist. Sie rüsten zum Aufbruch, sie müssen an Kaplan vorbei. Er rückt mächtig den Stuhl, hinter seinen Rücken fällt ein doppelter, fast gleichzeitiger Dank.

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Sowjet-Sozialistischer Realismus, soweit das Auge reicht. In der Alexandra-Kollontai-Galerie sieht Kaplan gemütliche Völlerei, Feste der einvernehmlichen Daseinsbewältigung. Brüderliche Besäufnisse. Eifrige Selbstkritik. Die Verherrlichung Stalins als politischen Olympioniken.

Die Narration ist märchenhaft ikonografisch, findet Kaplan. Der Anwalt betrachtet sich als Neo-Stalinist. Ihm ist klar, wie abwegig es seinen Kolleginnen erschiene, würde er sich offenbaren. Aber so blöd, sich bloßzustellen, sind nur die Bahugiṇatī śē'aradhāraka.

Verhaltensirrlicht

Ein Kaplan beichtet nicht. Der gibt nichts zu. Hat er nicht nötig. Kaplan beobachtet einen Schrat, der einen leeren Kinderwagen durch die Ausstellung schiebt. Ab und zu nutzt der Sinnlose das Fahrzeug für Arrangements, die er abfotografiert. Er geht in die Hocke, wechselt Winkel.

Was bedeutet ein leerer Kinderwagen? Unwillkürlich denkt Kaplan an ludic loops. Spielautomatennutzerinnen sind in ludic loops gefangen. Sie wiederholen sich in Erwartung unvorhersehbarer Belohnungen.

Heimlich absolviert Kaplan sein kürzestes Abschwörritual. Den Aberglauben betrachtet er als Relikt einer soliden Unterschichtsherkunft. Die schamanischen Zählreime einer Gossenkindheit liefern Kaplans Bürgerkriegsmaximen die Stichworte. Im Getto sind alle Mystiker. Vertraut mit Segen und Fluch falschherum gedrehter Popel. Bewandert in der Kunst der Deutung von Darmorakeln.

Voller Achtung ist man da für die Sinti-, Sufi-, Suff- und Shisha-Sagas. Die Wovoka drücken sich die Klinke in die Hand. Die Wovokas wissen alles, bloß nicht, wer gerade die Regierung stellt.

Kaplan beobachtet Marianne. Er erkennt die Wilderin in den Gefilden des herausgeputzten Mittelstandes. Parfümierter Rotz. Kaltblütig und doch mitunter trittunsicher auf ihrem persönlichen Bürgerinnenkriegspfad. Marianne bemüht sich um Goya. Früher zirkulierte Goya als der intelligenteste Idiot im Gebiet (Nordend). Doch seit auch noch der Letzte die Satan-weiche-Marke geknackt hat, nimmt die Kohorte Neubewertungen unter Hochdruck vor. Wer gestern topp war, ist heute hopp - ist ex - ist weg. Wohnt jetzt in Maintal-Bischofsheim oder gleich in Lämmerspiel. Wohnt da praktisch in Uschis Eckkneipe, dieser gemütlichen Pilsstube am Ende der Straße. Haust auf der Vorstufe zum Ende der Welt. „Zum Weltende“ heißt das Büdchen neben der Minigolfanlage.

Gestern war Kaplan mit Nihan in der Spätgotik-Ausstellung im Kanak-Kulturforum. Nihan referierte. Sie nannte drei markante Epochenmerkmale.

Aus Nihans Manuskript:

Zum ersten Mal taucht der Schlagschatten in Bildern auf. Die Raumauffassung vertieft sich. Das profane Element greift um sich. Die gemalten Jesuserzählungen behaupten mitunter schon mühsam ihre (auch pädagogisch verstandene) Dominanz gegenüber dem Karneval einer Gegenwart, die sich selbstverständlich ohne jeden Bezug zu den Goten verstand.

„Die Goten waren es auch, die die spitzbogigen Wölbungen eingeführt und ganz Italien mit ihren verfluchten Machwerken erfüllt haben.“ Giorgio Vasari

Die Zeitgenossinnen der sogenannten Gotik hatten mit der Epochenzuschreibung nichts am Hut. Sie handelten als Verspätete. Neuzeitliche Stürme schmirgelten die Wälle des Bewährten flach. Die Bastionen der Beharrungskräfte standen unter Zukunftsdruck. Doch die Akteure im Jetzt von Damals lebten lieber den alten Stiefel des Mittelalters weiter.

Kunst und Architektur der Spätgotik spiegeln nicht das Futur einer Gegenwart, sondern ihr Praeteritum. Die Folgen der Gutenbergschen Buchdruckrevolution überrannten die Akteure. In der - viele Analphabeten ansprechenden - Bildsprache scheint das keine Rolle zu spielen. Dabei hätte ein Walter Benjamin der Spätgotik bereits einen Aufsatz mit dem Titel Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit publizieren können. Wie Pilze schossen die Unarten der Ratgeberinnenliteratur aus merkantilen Feuchtgebieten. Kaum ging das Original in Serie, musste es en masse illustriert werden. Die Epochensignatur verkündet das nicht. Nur selten geraten profane Gegenstände in die Zentralperspektive. Jesus Christ Superstar - Der Schmerzensmann erscheint als Elvis Presley der Vorneuzeitler. Die Malermeister feiern das Spießbürgertum im Randgeschehen. Sie schaffen groteske Abbilder einer von Pandemien und Innovationen verunsicherten Gesellschaft.

Barbarisch fand der Architekt und Medici-Hofmaler Giorgio Vasari eine auf dem Vorhof der Neuzeit entstandene Architektur, die dem technischen Fortschritt keine avantgardistische Kulisse lieferte. Die Ordnung ergab sich aus sakralen und profanen Überwältigungszielen.

Heiner Müller nennt die Umbruchzeit zwischen Mittelalter und Renaissance „eine relativ ruhige Phase“. Die Bildsprache der Spätgotik widerspricht der Ansicht. Das Temperament des Übergangs bestimmt die Tatsache, dass europäische Phänomene in den Verfügungsbereich der Engagierten rutschen. Meister jetten zu den Schauplätzen der Zukunft und nehmen den heißesten Scheiß des historischen Augenblicks in Augenschein. Zack, zack. Dann macht man das nach und fügt noch was hinzu. Jede Erweiterung des Spektrums gerät in die Strudel einer überschreitenden Praxis. Köln dient der Phase als deutscher Hotspot. Pariser Ereignisse werden kaum fünfzehn Jahre nach ihrer Premiere in Köln kopiert.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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