Der Prinz von Hannover

#TexasText/Jamal Tuschick 1978 zog die Besatzung eines deutschen Frachters vierhundertfünfzig Vietnames:innen* aus dem Südchinesischen Meer. Die Landesflüchtlingsverwaltungen, bis dahin vor allem für Aussiedler:innen* zuständig ...

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“Don’t think, feel ... it is like a finger pointing a way to the moon. Don’t concentrate on the finger or you will miss all that heavenly glory!” Bruce Lee

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“When there is freedom from mechanical conditioning, there is simplicity.” Bruce Lee

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“Do not deny the classical approach, simply as a reaction, or you will have created another pattern and trapped yourself there.” Bruce Lee

Die Geschichte als Brummkreisel

1978 zog die Besatzung eines deutschen Frachters vierhundertfünfzig Vietnames:innen* aus dem Südchinesischen Meer. Die Landesflüchtlingsverwaltungen, bis dahin vor allem für Aussiedler:innen* zuständig, hatten ein neues Thema. Der Motor einer anti-sozialdemokratisch-subversiven Migrationsdebatte war Ernst Albrecht. Der niedersächsische Ministerpräsident aka König von Hannover regierte gern aus seinem Dorf Beinhorn in die Welt hinein. Er holte gleich mal tausend Bootflüchtlinge in sein Bundesland und deklarierte das als Folge einer Familienratsentscheidung. Albrecht schickte Wilfried Hasselmann nach Malaysia, um die malaysischen Behörden auf Trab zu bringen. Die Geschichte ist ein Brummkreisel. Hasselmann diktierte der Presse dem Sinn nach: Jetzt könne man sich wieder gut fühlen als Niedersachse.

Xuan Phan, der zwei Jahre später mein erster Gong-fu-Lehrer werden sollte, gehörte zu jenen an Land Gezogenen, die am 3. Dezember 1978 in Hannover-Langenhagen eine Maschine der Luftwaffe verließen. Nach der Kapitulation 1975 hatten die Sieger:innen* Xuan vorübergehend in einem Umerziehungslager untergebracht und den Betrieb seiner Familie enteignet. Insgesamt kamen zweiunddreißig nahe Verwandte in Deutschland an. Sie konzentrierten sich im Landkreis Kassel. Einer von Xuans Onkeln eröffnete in Lohfelden ein Restaurant. Xuan trat in diesem Kontext als Koch auf. Er spielte viele Rollen gleichermaßen gut.

Er gab mir viele Rätsel auf.

Xuan lebte mit seiner Frau Chau und einer Schar leiblicher Kinder sowie Nichten und Neffen in einem freistehenden Haus am Rand des Kaufunger Waldes (der Söhre). Nach den örtlichen Maßstäben waren wir Nachbarn. Simone und ich wohnten in einer Jagdbaracke der Försterei Fahrenbach. Simone verabschiedetet sich „nach und nach in (ihre) Abgelöstheit … (den Genoss:innen*) von jeher so unähnlich“. Dostojewskij charakterisiert so Wassili Michailowitsch Ordynoff in der „Wirtin“, einem Werk aus dem Jahr 1847.

Simone kiffte von früh bis spät. Ab und zu verschwand sie, um nach Tagen, teuer gekleidet, und mit jeder Menge losen Scheinen im Gesinnungsbeutel, wieder aufzukreuzen.

Ich schaffte Vorräte in den Wald, hackte Holz und mähte die Wiese hinter dem Haus. Ich kümmerte mich um die Bäume im Garten und um den Zaun. Simone kümmerte mich um die Beete. Sie versorgte uns mit großen Brocken Hasch. Mit tausend Mark zum Verjubeln und exklusivem Dies & Das. Simone beschenkte die Phans.

Stippvisiten im Hotel Mama

Simone baute ihre Position bei den Phans aus. In Xuans Haus kam Wasser aus Hähnen. Es gab Strom. In unserem Hexenhaus gab es das nicht. Wasser aus der Regentonne eignet sich kaum besser als Schlamm zur Reinigung. Simone badete bei den Phans oder in der Villa Kunterbunt ihrer endgültig nach Berlin abgedampften Mutter.

Da ich tagsüber im Kurierdienst der Arbeiterwohlfahrt „Greise & Gnome“ (Zivi-Jargon) mit warmen Mahlzeiten versorgte, fand ich genug Gelegenheiten, Hygiene walten zu lassen. Manchmal stieg ich im Stadtbad Mitte ab und schwamm schnell drei-, viertausend Meter. Zur Abwechslung duschte ich bei meinen Eltern und nahm frische Wäsche mit, oft auch fertige Mahlzeiten im Henkelmann.

„Stippvisite im Hotel Mama“ nannte meine Mutter das. Sie hätte mich gern ganz zu Hause gehabt. Sie hatte selbst noch als Dreißigjährige die Reservoire ihrer Eltern ausgeschöpft, mich von Oma und Opa ausstaffieren lassen, die Kohle der Alten eingesackt.

Ich besuchte auch meine Großeltern, die Statthalter meines Erbes. Ich schleppte ab, was ich oder Xuan brauchte, vom Boschschlagbohrer über Sägen und Äxte bis zur Betonmischmaschine. Mein fast blinder Großvater baute manisch weiter auf seinem Anwesen herum. Er hielt jeden erreichbaren Mann dazu an, mitzubauen. Nach der schweren Ölkrise von Neunundsiebzig strebte er absolute Autonomie an.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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