Khalil Diallo - Verirrter Sternenstaub

#TexasText/Jamal Tuschick Khalil Diallo, „Die Odyssee der Vergessenen“ - Sembouyane beschreibt Verhältnisse, in denen die Hölle verblasst. Der Erzähler sucht Zuflucht bei seinem Großvater, der sich in einem majestätischen Kapokbaum inkarniert hat.

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Bevor das Mittelmeer zum Massengrab wurde, gab es vor Lampedusa keine Wolfsbarsche mehr. Die Rückkehr des Branzino, sein starkes Aufkommen in Küstennähe, zeigt an, was auf Lampedusa keinem entgehen kann: dass ein paar Kilometer vor dem europäischen Festland Menschen ertrinken und diese Ernte einige Kreisläufe beschleunigt.

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„Migration hat sich zur dominanten Chiffre für die Frage Europas nach seiner demokratischen Verfasstheit entwickelt. Die Migrationsfrage ist … zur neuen sozialen Frage des 21. Jahrhunderts geworden.“

In der postmigrantischen Gesellschaft lässt sich „die alte Trennschärfe“ zwischen Eigen und Fremd (zwischen „Etablierten und Außenseitern“, Norbert Elias) nicht mehr herstellen. Das führt einerseits zu einer neuen Normalität im Zuge der Erweiterung hybrid-diverser Konstellationen und andererseits zu einem „Anstieg rassifizierender Denkmuster“. (Naika Foroutan).

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„Mein Bild vom Migranten ist eine Person, die aus dem Koffer lebt, mit einem Fuß immer vor der Tür.“ Helon Habila, „Reisen“.

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„Auf der ganzen Welt werden dystopische Großtechnologien installiert, monströse Anlagen“ (Fabian Georgi), die Migrant:innen aufhalten. Die ökonomische Verwertung von Migrationsprozessen beeinflusst die Politik. Auf den Märkten der Migration werden Menschen nach den Spielregeln eines „autoritären Festungskapitalismus“ (Fabian Georgi) entrechtet, verschoben und in Albträumen aus Stacheldraht und Beton interniert. Die Infrastrukturen der Ölstaaten im Mittleren Osten, einschließlich der Prunk- und Rekordbauten, entstanden unter den Bedingungen der Sklaverei im Rahmen „globaler Apartheit“ (Fabian Georgi).

Mit progressiver Rhetorik camoufliert man eine repressive Migrationspolitik.

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Natasha Brown in Zusammenkunft über den Suprematie-Anspruch, die Empire-Nostalgie und den imperialen Impetus im Schlafrock des Liberalismus der britischen Erb-Elite:

„Heute ist es offensichtlich, ist im Rückblick so unanfechtbar wie die Irrationalität der Quadratwurzel aus zwei, dass diese Supermächte weder unfehlbar noch überlegen sind. Sie haben nichts, ohne ihre mit äußerster Brutalität erzwungene Vorherrschaft. Eine organisierte, systematische Brutalität, die ihre verweichlichten, schwächlichen Kinder kaum ertragen, nicht mal zur Kenntnis nehmen können. An die sie sich trotzdem als Wahrheit klammern. Ihr Absolutheitsanspruch war nie legitimiert, es gab keinen Befehl von Gott. Bloß bösartigen, willkürlichen Zufall. Und dann, Verzinsung.“

Sagenhafter Schleuser

Im ersten Satz deutet sich ein universeller Exilbegriff aus. Die Erde als Exil für alle.

„Der Mensch ist verirrter Sternenstaub“, schreibt Khalil Diallo.

„sonnenstaub also sind wir - aus stoff der in sternen entstand“, dichtet Raoul Schrott. Der Mensch stammt aus der Sternenschmiede.

“All of the body’s reactions have a genetic root that goes back billions of years.” David A. Sinclair

Wir sind Kinder des Alls. Der Physiker Josef M. Gaßner erklärt die Trinität von Symmetriebruch, Phasenübergang und kosmologischer Inflation. In der Inflationszeit erreichte das Universum den zehnten Teil seines aktuellen Durchmessers. Die primordiale Nukleosynthese in den ersten drei Minuten nach der Zündung organisierte Wasserstoff, Helium und in geringen Mengen Lithium und Beryllium. Das Universum war höllisch heiß und schwarz, Sterne und Galaxien starteten erst fünfhunderttausend Jahre später ihr Feuerwerk. Erst in den kollabierenden Sternen der ersten Generation bildeten sich weitere Elemente. Daraus sind wir gemacht.

Khalil Diallo, „Die Odyssee der Vergessenen“, Roman, aus dem Französischen von Astrid Bührle-Gallet, Orlanda, 154 Seiten, 22,-

Diallo bringt diese Essenz beinah im ersten Satz. In der Kosmologie, die ein Vorrecht und eine Last jenes Volkes ist, dessen Erbe Diallos Erzähler Sembouyane weiterträgt, bleibt nichts dem Zufall überlassen. Von Geistern bis zum I-Tüpfelchen ausbaldowerte Schicksale müssen von den Menschen ausgebadet werden. Sembouyane, Jahrgang 2000, wächst im Grenzland zwischen dem Senegal und Guinea auf. Der von Krieg, Dürre und Buschfeuer heimgesuchte Flecken heißt Forédougou.

Sembouyane beschreibt Verhältnisse, in denen die Hölle verblasst. Der Erzähler sucht Zuflucht bei seinem Großvater, der sich in einem majestätischen Kapokbaum inkarniert hat. 2013 erlebt er zum ersten Mal die Liebe, wenige Stunden vor dem Beginn seiner Initiation in dem Wald, der sein Dorf einschließt. Als Sembouyane zurückkehrt, findet er den Schauplatz seiner Kindheit verheert. Unter den von Freischärlern Ermordeten sind seine Eltern und seine Liebste.

Wie Nachbilder wirken Diallos suggestiven Ansichten. Sembouyane verlässt seinen Herkunftswinkel mit der Idee, nach einer langen und gefährlichen Reise in Paris anzukommen. Die französische Kapitale verehrt er als Hauptstadt der Literatur. Seine Odyssee startet er in der Gesellschaft seines Freundes Ivy, der das Massaker überlebte, indem er sich totstellte. Vor ihrem Aufbruch versorgen sich die Verbündeten mit dem Barvermögen eines Ermordeten.

Sembouyane und Ivy können alles bezahlen, angefangen bei der Grenzpassage nach Senegal, für die sie einem Müllkutscher fünfhundert Euro geben.

Diallo schildert die Binnenmigration der Knaben als einen hochgestimmten Begegnungsmarathon. Sämtliche innerafrikanischen Stadien werden zu Arenen ehrgeiziger Konversation. Sembouyane will Schriftsteller werden. Sein unverdrossenes Wesen und eine bukolische Perspektive nehmen das Publikum ein.

„Fluidität von Herkunft und Kultur“ und eine „Diversität jenseits von Herkunft“ (Naika Foroutan) ergeben neue Koordinaten in allen möglichen Fluchtlegenden. Am Anfang der Geschichte, die zunächst den Regeln der prekären Migration kaum entspricht, stattdessen Züge einer Bildungsreise trägt, dienen die Ursprungskoordinaten der denkbar eindeutigsten Identifikation. Die jugendlichen Migranten erklären sich mit der Erwartung, verstanden zu werden. Mögen die Dinge noch so vertrackt liegen, man kann doch mit Verständnis auf allen Seiten rechnen. Diese Gewissheit verflüchtigt sich mit im Abstand zum Ausgangspunkt.

Sembouyane und Idy nutzen alle möglichen Transportmittel auf ihrem Weg nach Agadez in Niger. Unterwegs lernt Sembouyane von einem verfemten Autor lesen und schreiben. Beim Schreiben überkommt den Schüler „das Gefühl, den Tod zu überwinden“.

In Agadez gabelt die Gemeinschaft Maguy auf, die sofort zur Eile mahnt. Alle hoffen, sich dem sagenhaften Superschleuser Sami anschließen zu dürfen.

„Die Schlepper verlangen … gewaltige Summen, um Hindernisse zu überwinden … Sie sind … regelrechte Navigatoren, die mit dem Geschick eines Magellan am Steuer seiner Karavelle durch die Dünen segeln.“

„In den Vorzimmern der Hölle ist alles erlaubt.“

Diallo schwelgt in Schilderungen des Schlepper- und Schleuserwesens. „Die Söhne der Wüste … kennen die geheime Sprache des Sandes“. Nicht alle sind von der fulminanten Nachfrage korrumpiert. Manche „stolzieren blasiert“ ihren Schäfchen voran.

„Die Schlepper sind die Pharaonen der Neuzeit, sie entscheiden für ihre gesamte Reisegruppe über Leben und Tod.“

Sami soll ein Nachfahre von Ramses sein. Aus den Tausendschaften der Mühseligen und Zermürbten siebt er die Mutigsten und Entschlossensten. Selbst Sami ist der Wüste nur so lange gewachsen, wie ihn keine Schwäche zur Nachgiebigkeit zwingt.

Sami ist hart wie ein Stein. Sembouyane und Idy sind ihm nach der Mütze. Seine Devisen haben sich gewaschen:

„Wenn du kein Wasser hast, bist du in der Wüste nicht mehr wert als ein Mittagessen für die Geier.“

Und nachts frisst dich die Kälte, also mach dich auf was gefasst. In der Wüste gibt es keine Liebe und keinen Adel. Entweder du hast Wasser oder du stirbst.

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Sembouyane und Idy durchqueren die Sahara in einem Tross von vierzig Leidensgenoss:innen auf einer LKW-Ladefläche.

Diallo schlägt zwar einen munteren Ton an, lässt aber keinen Zweifel daran, dass er ein Martyrium überliefert. Ein Sandsturm reißt Passagiere über die Rampe. Sami hält nicht an. So entspricht er einer Ansage im Vorfeld der Expedition; als sich das nach keiner vorstellen konnte: wie Leute einfach über Bord gehen und zerschlagen auf der Piste liegenbleiben, bestenfalls als Beute für Hyänen. Anderenfalls erwartet sie ein noch elenderer Tod.

Sami fährt zwei Tage und eine Nacht ohne Halt. Er folgt seinem eigenen Kurs abseits der regulären Strecke direkt durch die Sandmeere zunächst der südlichen Ténéré. Hundert Kilometer lange Dünenzüge durchziehen das Tschadbeckens. Sami schwenkt nach Norden Richtung Dirkou via Fachi. In der Oase hielt sich die Sklaverei und abgeschwächte Formen der Leibeigenschaft bis weit ins 20. Jahrhundert. So weit die offizielle Darstellung. In Wahrheit hörte die Sklaverei in diesem Teil der Welt nie auf. Die Salinen von Fachi verweisen auf verdunstete Salzseen und insofern auf eine mediterrane Verfassung der Sahara.

Sembouyane erleidet das ganze Wüstenkollerprogramm einschließlich der Fata Morganen.

„Unsere einzige Stärke liegt in der Ausdauer und im Aushalten von Prüfungen.“

Je näher die Migrant:innen besiedelten Flecken kommen, desto spürbarer wird die Depression des libyschen Bürger:innenkrieg. Trostlosigkeit beherrscht die Szenen. Schließlich werden Samis Schützlinge angegriffen. Überlebt die Helden den Kampf? Lesen Sie selbst. Ich will nur noch so viel verraten. Die Geschichte nimmt eine schreckliche Wendung. Sie endet so wie sie begonnen hat: in einem Blutbad.

Aus der Ankündigung

Wie kommt es dazu, dass ein anerkannter Schriftsteller, eine junge Feministin und zwei Jugendfreunde, die alle aus Westafrika stammen, sich auf den illegalen Routen nach Europa wiederfinden?

Auf einer gnadenlosen und intensiven Odyssee zwischen der Westküste Afrikas und dem Mittelmeer erzählt Khalil Diallo die Geschichte von Sembouyane und seinem Freund Idy, die fliehen, nachdem ihr Dorf von Milizen überfallen wurde, und seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern und nimmt uns mit in den Strom der Tausenden von Migrierenden, die, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die Wüste durchqueren, um ans Meer und an eine Überfahrt nach Europa zu gelangen.

Nichts wird ihnen erspart bleiben, aber trotz der Enttäuschungen und des Leids werden sie nicht aufhören, zu träumen und für ihr unveräußerliches und universelles Recht auf Würde zu kämpfen.

Der Roman zeichnet in poetischer Sprache ein kompromissloses Bild Afrikas im 21. Jahrhundert und der Lebensrealitäten vieler Migrantinnen und Migranten nach und macht sie dabei in ihrer Individualität, mit ihren Hoffnungen und Ängsten sichtbar. Ein kompromissloser Roman über Freundschaft, Solidarität und Erinnerung.

»Ich wusste bereits, was er sich zu sagen anschickte. Wir alle wussten es. Wie für alle Schlepper war das Elend auf der Welt für ihn ein Geschäft. Er wusste, dass wir schon zu lange gewartet hatten. Dieser Abend, so sagte er, sei der letzte Moment des Wartens, und er stehe für den Beginn eines Traums. Seine Worte waren kraftvoll wie Liebkosungen, stark wie Opium und schön wie ein Traum.« »Mit seiner Odyssee der Vergessenen gibt Khalil Diallo den Migrant*innen ihre Identität zurück.« Le Monde

Zum Autor

Khalil Diallo, geb. 1992, ist einer der vielversprechendsten jungen Schriftsteller des afrikanischen Kontinents. Er wurde in Mauretanien geboren und lebt in Dakar. Nachdem er Finalist des Prix Orange du livre en Afrique 2019, des Prix Kourouma 2019 und des Prix Ivoire 2019 war, wurde er Preisträger des Prix Ahmed Baba 2021 und Finalist des Prix Kourouma 2021. »Die Odyssee der Vergessenen« ist Diallos zweiter Roman.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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