Klatschen an der falschen Stelle

#TexasText/Jamal Tuschick Ohne Blickkontakt zum Publikum unterbindet der Dirigent den unerwünschten Zwischenapplaus mit einer kleinen Bewegung der linken Hand. Mit einer einzigen Geste bringt er den Saal zum Schweigen.

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Ein Abend in der Berliner Philharmonie. Santtu-Matias Rouvali dirigiert die 5. Sinfonie von Sergei Prokofjew. Nach dem ersten Satz wird geklatscht. Ohne Blickkontakt zum Publikum unterbindet der Dirigent den unerwünschten Zwischenapplaus mit einer kleinen Bewegung der linken Hand. Mit einer einzigen Geste bringt er den Saal zum Schweigen.

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Der eine schweigt zehn Minuten, der andere sagt so lange nichts.

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„Es muss klar und neblig zugleich sein.“ Christian Thielemann über den Sound in einem Orchestergraben

Auf dem Kurzeck-Trail - Szenen aus den frühen 1980er Jahren

Sonja pfiff aus dem letzten Loch der Einfallslosigkeit. Wir saßen in ihrem Lehmbau am Waldrand, ein Terrorist sollte sich darin versteckt haben. In den Wänden waren faustgroße Löcher, aus denen Stroh, Mäusedreck und Zeitungspapier fiel. Der ursprüngliche Baustoff war immer wieder eingesetzt worden, die Wände archivierten den zur Dämmung taugenden Abfall von Epochen.

Sonja und ich froren wie die Schneiderinnen, ihre siebzehn Tiere wurden nicht satt. Bürgerinnen und Bäuerinnen schickten ihre Kinder mit Futter vorbei. Mitunter war etwas darunter, dass für Menschen Nahrung sein konnte. Sonja bekam einen Ausschlag, ein Arzt behandelte sie, obwohl keine Versicherung dafür aufkam. Allmählich verstand ich, warum ich nach all den Jahren des Flirts, lunarer Berührungen und heißer Augenblicke auf Festen und Konzerten in eine Bindung gezogen worden war. Schließlich gaben wir die Tiere in einem Asyl ab und fuhren auf dem Kurzeck-Trail über die Käffer von Gießen nach Frankfurt. Für uns war das AFN-Land. Der Sender warb mit dem Slogan Music Worth Fighting For. Sonja tat, als sei alles in Ordnung. Ich traute ihr nicht mehr. Es stellte sich heraus, dass sie ihren Personalausweis im Lehmhaus vergessen hatte. Abends gingen wir zu The Moody Blues, Justin Hayward war zweiundsechzig. Filmaufnahmen aus dem Jahr 1968 zeigten einen zurückhaltenden Jungen mit diesem speziellen UK-Charme. Neben dem alten Justin spielte Ray Thomas Querflöte, Michael Pinder saß am Mellotron „that we bought for 20 Dollars from the Dunlop Social Club in 1967. It complemented our songs“.

Mit Tonbandpartikeln generierte das Instrument den symphonischen Sound, der The Moody Blues von ihrem Rhythm‘ n‘ Blues-Ursprung abkoppelte und in die Komplexität führte. Die Band wurde 1964 in Birmingham gegründet. Pinder kam auf ihren Namen, angeregt von Duke Ellingtons Mood Indigo und dem Umstand, dass zur Hochzeit der British Invasion in Birmingham alle Clubs mit der Brauerei Mitchells and Butlers, kurz M & B verbunden waren. Er und Thomas versprachen sich etwas von der Übernahme der Initialen.

Im Gründungsjahr veröffentlichten The Moody Blues „Go no“, 1965 eine Nummer Eins auf der Insel. 1966 fanden Umbesetzungen statt, seither spielten Hayward, John Lodge (bass) und Graeme Edge (drums) zusammen. Ich kannte eine Rheinländerin, der vor langer Zeit ein Heiratsantrag zu „For my lady“ unterbreitet worden war. Vernehmen ließ sich die Band zuerst mit „Lovely to see you again“, einem angenehm undramatisch heruntergespielten Lied aus dem Jahr 1970. „Die Hintertür zur Rock-Glaubwürdigkeit“, um ein vernichtend auf The Moody Blues gemünztes Verdikt von Paul Sexton zu variieren, schloss sich an dieser Stelle bestimmt nicht. Sonja und ich genossen eine Reise in die Steinzeit des Rock, obwohl The Moody Blues weder für sie noch für mich je eine besondere Rolle gespielt hatte. Justin Hayward erschien wie ein stiller Genießer der eigenen Kreationen. Geföhnt und ganz frisch stand er da wie die Person gewordene Lakonie oder auch wie ein Netzer seines Fachs. Mir gefielen „Tuesday afternoon“ und „Never comes the day“. Insgesamt wurde mir zu viel gedrechselt, in Klangfolien geschlagen und mit Zimbeln bestäubt. Elegischer Wechselgesang schmierte im Bombast ab. Wie der Methusalem als Derwisch rückte Old Edge zur Rampe auf und läutete das Hochamt ein, „Nights in white satin“. Ich schlug vor, die Zugabe zu verpassen, in einem Treppenhaus der Alten Oper kam uns Herr Lehmann-Zwo entgegen. Er war ein Altgedienter der Konzertberichterstattung und hatte die Zigarettenpause in der Halbzeit bis zum Veranstaltungsende gedehnt. Er drehte gleich wieder mit uns ab, er hatte nur noch einen bösartigen Blick auf das von „Nights in white satin“ ergriffene Publikum werfen wollen.

Böen fegten den Platz vor der Alten Oper, Herr Lehmann-Zwo wollte im Club Voltaire weitertrinken. Sonja begeisterte sich für den Vorschlag. Wie in einem Traum so entrückt, beobachtete ich, wie sie und Herr Lehmann-Zwo zusammenrückten. Bei ihm konnte Sonja ihre alten Geschichten noch einmal loswerden. Ich war schon zu ernüchtert.

Ich verzog mich in ein fast leeres Lokal an der Bockenheimer Landstraße. Eine Frau hielt die Stellung.

„Schenken Sie noch aus?“ fragte ich.

„Ich würde Ihnen sogar noch was zu essen machen“, erwiderte sie familiär. Es war erst elf, das Lokal hatte einen spanischen Anstrich. Ich bestellte Weißwein, Wasser und Tapas, um die Ecke war Suhrkamp. Die Tapas schmeckten nach Balkan nicht schlecht, ein Gast trat ein und strebte leutselig zum Tresen. Ich erkannte Adolf Muschg. Er erklärte sich zur Vorhut einer Gruppe, die Kellnerin rieb sich die Hände. Freude spitzte ihre Lippen. Ich nutzte die Ruhe vor dem Sturm, um mich einmal noch an Sonja zu erinnern, so wie sie in ihrer guten Zeit gewesen war. Wir beide konnten, ohne uns näher zu kennen, dieselbe Gabel benutzen, uns gegenseitig aus der Hand essen, wir mussten immer etwas zusammen trinken und gemeinsam rauchen und wenn getanzt wurde, dann tanzten wir.

Sonja beherrschte Kneipenspiele. Sie knobelte gern. Ihre Freude an deutschen Liedern befremdete mich. Bei einem Auftritt von Udo Lindenberg überraschte mich ihre Textsicherheit. Sie sang in einem Chor aus zigtausend „heißen Greisen“. Bis zum Schluss war alles frenetischer Anfang. In einer Gefühlswolke, in der man unbemerkt ergriffen sein konnte. Ich leistete still Abbitte und verdammte mich für den Snobismus meiner Jugend. Es gab keinen Apfelwein, bloß Beck‘s und ein paar Lindenberg-Darsteller, die auch als Blues Brothers auftreten konnten.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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