Knotenpunkt handfester Geselligkeit

#TexasText/Jamal Tuschick Jede Region hat ihren Kannibalen mit eigener Wurstküche

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Knotenpunkt handfester Geselligkeit

Jörg träumt von der Bekanntschaft mit einem gutaussehenden Mann, der gern geschlachtet, portioniert und gegessen werden möchte.

Jede Region hat ihren Kannibalen mit eigener Wurstküche. So einer ruft zum Winterschwimmen im Fluss vor der Haustür auf und ist in der freiwilligen Feuerwehr aktiv seit seinem vierzehnten Lebensjahr. Er kegelt königlich und ist berühmt für eine nasse Aussprache. Ganz unverfänglich unterhält sich so ein Jörg mit dem Spanner Olm in der Bahnhofsgaststätte Drehscheibe über Waschmaschinen und Tiefkühltruhen. Jörg träumt von der Bekanntschaft mit einem gutaussehenden Mann, der gern geschlachtet, portioniert und gegessen werden möchte. Schön portioniert, tiefgefroren, aufgetaut und wie frisch von der Schlachtbank auf die abwaschbare Tischdecke, die am Küchentisch klebt. Jörg wohnt bei Mutti, die ehrlich froh ist, dass der Bub so gern kocht. Als Störung ist mit Mutti nicht zu rechnen, weil es im Keller einen schalldichten Raum gibt. Jörg hat an alles gedacht. Um das Thema Freiwilligkeit nicht zu vernachlässigen. Freiwilligkeit ist schön und gut, wenn sie sich ergibt.

Die Bahnhofsgaststätte war in den 1970er Jahren eine von amerikanischen Soldaten und Schülern als Geheimtipp gehandelte Drehscheibe für World’s end-Stimmungen im Vorgriff auf die Filme von David Lynch und Jim Jarmusch. Jörg dröhnte als Kannibale in der Pubertät mit. Man war freundlich zu ihm in der Jim-Beam-Höhle. Hanauer Boxer und Seligenstädter Ringer übten den Pimp-roll unter Aufsicht von Experten. Hersfelder, die nachweislich Karate konnten, stellten sich gefährlich an den Tresen. Die lokalen Schluckspechte und Süffels ignorierten den Ehrgeiz in ihrem Revier. Ihnen war alles recht, solange die Spritpreise nicht stiegen. Die Bahnhofsgaststätte war ein Knotenpunkt handfester Geselligkeit, die Handwerker wurden im Turntable schüchtern oder forsch, je nach Veranlagung. Ihre Brotdosen passten so oder so nicht ins Bild.

Die Amerikaner verbesserten die Performance deutscher Rocker. Sie gaben Nachhilfeunterricht in Lässigkeit. Viele waren in Fulda stationiert und bereit, Deutschland jederzeit von der Karte zu streichen. Niemand unterrichtete sie in hessischer Landesgeschichte. Sie wussten nicht, wo sie gerade verloren gingen oder anderen rieten, zügig abzuhauen. Keine Ahnung hatten sie, dass Fulda zum Herzogtum Ostfranken gerechnet und 1114 zum ersten Mal als Stadt erwähnt worden war.

Jahre, in denen das Leben geschlossen hatte, wie weißgottjedes Edeka am Sonntag. In den Heftchenromanen vom Bahnhofskiosk kamen Jörgs Vorlieben nicht vor. Schnaps als Vorkehrung gegen die Erfahrung Einsamkeit.

Der Kneipenklospruch Auch Arschgeigen können zart besaitet sein als Gratiseinsicht. Auch Jörg sehnt sich nach Liebe. Für mehr als eine Bekanntschaft reicht es nie. Jörg steht noch nicht einmal das Volkshochschulvokabular für seine Abweichung zur Verfügung. Sitzt er mit der Mutter vor dem Fernseher, denkt es mörderisch in ihm: die Alte hat Schuld. Sie brachte das Monster zur Welt.

Alles alt. Die Decken, das Sofa, der Fernseher. Das ist doch nicht normal, dass alles alt ist. Das Haus, die Fensterläden, der Aufgang. Alles sieht so aus, als wäre es schon immer alt gewesen. Auch die Mutter sieht so aus. Ihre Liebe gibt sich nicht zu erkennen. Dabei müsste einen die Mutter doch wenigstens lieben, wenn sie sonst schon nichts für einen tun kann.

Jörg kehrt von einem Gedankenausflug zurück in die Wirtshausrealität. Ihm gegenüber sitzt Olm, wie gesagt. Olm informiert den Landkreis über seine Vorlieben, die legal sind. Der Wunsch nach einem Netzstrumpf am Frauenbein zieht keine strafrechtliche Verfolgung nach sich. Das ganze Jahr durchforstet Olm den Landkreis auf der Suche nach Modellen für den Landliebe-Kalender. Er hat seiner Obsession ein perfekt sitzendes Kleid angepasst. Sich vor ihm erst auszuziehen und dann erotisch zu verkleiden, wird als Auszeichnung erlebt.

Der innere Schmierlappen verbirgt sich. Olm fährt einen Alfa Romeo Spider und haust in einem solide geerbten Knusperhäuschen. Er riecht nach Molton Brown, die Frisur ist von Meisterinnenhand. Molina Beretta gibt der erfolgreichen Integration in Osthessen ein Gesicht. Sie führt den Salon Latin Lover in der Würzburger Straße. Ohne Voranmeldung geht nichts. Als Kundin muss man sich hochdienen, Geduld haben und Zeit mitbringen. Wer bei Molina ein Stein im Brett hat, darf vorbeischneien, sich nach dem Befinden der Familie erkunden, einen Espresso trinken, der einfach Kaffee heißt, Zigaretten im Laden rauchen und sich endlich mit Haut und Haar Molinas Gestaltungswillen ergeben.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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