Kulturtopografie und Hexenschmauch

#TexasText/Jamal Tuschick Hans Mayer, „Außenseiter“ - In der deutschen Nachkriegskulturtopografie hinterließ er Meilensteine. In seinem Meisterwerk ...

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„Mich fasziniert, wie glücklich man an den schlimmsten Orten sein kann und wie unglücklich an den schönsten.“ Norris von Schirach in der Süddeutschen Zeitung

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„Das eben ist die Stärke großer Charaktere, dass sie nicht wählen, sondern … das sind, was sie wollen.“ Friedrich Hegel

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„Ich hörte ihn im Wirtshaus schwatzen; ich habe aber seine Anmaßung nicht gestraft; denn was kümmert mich fremde Torheit?“ Mutianus Rufus über den wandernden Wahrsager Johann Georg Faust. Dessen Existenz diente Goethe nicht zuerst als Vorlage für einen Faust-Wurf.

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“The mind adapts and converts to its own purposes the obstacle to our acting. The impediment to action advances action. What stands in the way becomes the way.” Marcus Aurelius

Publikumssüchtiger Eremit

Eine Lustspielfigur „strebt nach Echtheit und liebt eine Mondäne“. Die Kunstgestalt verachtet ihre Kritiker und beachtet doch jedes kritische Wort. So wird „die Macht des Sozialen“ gerade von ihrer Verächterin anerkannt.

Das destilliert Hans Mayer in seinem „Außenseiter“ aus bürgerlichen Maischen. Rousseau charakterisiert er als „publikumssüchtigen Eremiten“. Mayer erinnert an das kümmerlichste, wohl nie vom Autor zur Veröffentlichung bestimmte Shakespeare-Stück - „Timon von Athen“. Der Titelheld verkörpert einen Misanthropen. Hans Mayer erkennt in der Misanthropie gesteigerte Melancholie und in der Melancholie ein fürstliches Privileg.

Gesteigerte Melancholie/Paroxysmen des Menschenhasses/Schmollrefugium

Nach einer Niederlage zog sich Marcus Antonius in ein Schmollrefugium zurück, das er Timoneion nannte.

“Shame not these woods, by putting on the cunning of a carper. - Schände den Wald hier nicht durch die Tiraden des Menschenfeindes.”

Mit diesen Worten lässt Shakespeare Timon in die Schranken weisen.

Akademische Arabeske

In der deutschen Nachkriegskulturtopografie hinterließ er Meilensteine. In seinem Meisterwerk „Außenseiter“ tritt Hans Mayer mit der Behauptung an, „dass die bürgerliche Aufklärung gescheitert“ sei. Seit Jahr und Tag hören wir Beschwörungen der Aufklärung, während der abschlägige Bescheid längst zugestellt wurde.

„Das Monstrum als Ernstfall der Humanität.“

Die Aufklärung, so Mayer, muss sich an den Außenseitern messen lassen und sich vor jenen bewähren.

Hans Mayer, „Außenseiter“, Suhrkamp

Der Denker verweist auf Marx, der sich am Beispiel der Antike klarmachte, dass der Untergang einer Gesellschaftsordnung den Wert ihrer Kunstwerke nicht zwangsläufig außer Kurs setzt. Bis heute orientieren wir uns an „den tragischen Außenseitern“ der griechischen Epik, ihrer römischen Transformationen im Zuge einer „Formalisierung … der Tragödie“ und den Unsterblichen der Renaissance. Aus diesen drei Abteilungen stammen beinah alle literarisch Überlebensgroßen. Mayer zählt sie auf. in Hamlet erkennt er eine „Leitfigur der Grenzüberschreitung“. Leidfigur ginge auch. Er zitiert Ernst Bloch, der Don Quichottes Erfahrungsresistenz hervorhob. Die Wirklichkeit kommt gegen die „Traumschicht“ nicht an. Der Ritter erwartet ein Goldenes Zeitalter in der eigenen Person.

„Denn wisse … dass der Himmel mich geboren werden ließ, in unserer eisernen Zeit das Goldene Zeitalter wieder zu erwecken.“

Mayer erklärt die magische Wirkung jener von den Jahrhunderten nicht stummgestellten Heldinnen und Helden mit der Fähigkeit, das Drama, das ihnen den Rahmen gab, hinter sich zu lassen. Sie wuchsen über ihren Kontext hinaus. Jede ehrgeizig-intelligente Autorin der fortgeschrittenen Neuzeit bezog sich auf das griechisch-römische Personal und die elisabethanischen Nachzüglerinnen. Mayer skizziert den allenfalls vorderhand adaptiven Vorgang am Beispiel der (sich auf Johann Spies berufenden) Faust-Fortschreiber zwischen Christopher Marlowe, Goethe, Paul Valéry und Thomas Mann.

Der „Übertritt in Abseits“ mag Titanismus (Don Juan), einem Pakt mit dem Teufel (Faust) oder Gehorsam (Jeanne d’Arc) geschuldet sein; doch was, wenn ihn „die Geburt auferlegt“?

Mayer schlägt einen Bogen von der höfischen Melancholie zur bürgerlichen Menschenfeindlichkeit. In der Misanthropie erkennt er gesteigerte Melancholie. Um zwei Ecken findet Mayer eine Auflösung hin zur Innerlichkeit.

„Auch die bürgerliche Menschenfeindlichkeit präsentierte sich … als innerer Vorbehalt des Geistes und des Herzens.“

Hexenschmauch

Mit dem Avancieren des Bürgers zur gesellschaftlichen Zentralfigur korrespondierte die „Evokation eines weiblichen Außenseitertums“. „Fast süchtig“ betrieb der Prä-Bourgeois die Ausgrenzung bereits in „der Epoche zwischen Erasmus und Shakespeare“. „Drei eklatante Frauenskandale“ fanden immer neue Interpretationen auf den Referenzhochpunkten der Renaissance. Sie verbinden sich mit den biblischen Persönlichkeiten Salome, Dalila und Judith. Ich weiß nicht, wie oft ich das Haupt des Holofernes/ Judith köpft Holofernes an der Wand einer als herausragende Sehenswürdigkeit ausgewiesenen Kirche gesehen habe.

„Sehet, dies ist das Haupt des Holofernes, des Feldmarschalls der Assyrer, und sehet, das ist die Decke (das Mückennetz), darunter er lag, als er trunken war. Der Herr hat ihn durch die Hand einer Frau erschlagen.“ Buch Judith 13,15

Botticelli, Lucas Cranach der Ältere, Caravaggio, Artemisia Gentileschi und Michelangelo (in der Sixtinische Kapelle) lieferten dem Guerrillaakt drastische Darstellungen. Mayer bringt eine „lüsterne Destruktionslust“ ins Spiel. Er vermisst sie beim älteren Cranach. Der reformatorische Parteigänger trat als Bürgermeister von Wittenberg für einen Hexenschmauch ein. Das Exekutionsresultat verewigte er in einem Holzschnitt.

„Zu Wittenberg schmäuchte man auch vier Personen, die an eichenen Pfählen emporgesetzt, angeschmiedet, und mit Feuer wie Ziegel jämmerlich geschmäucht und abgedörrt wurden.“ Johannes Mathesius

Das Kunstwerk zeigt verschmorte Leichen. Von Amts wegen umgebracht wurden im Sommer 1540 Prista Frühbottin, ihr Sohn Dictus sowie die Abdecker-Handlanger Clemen Ziesigk und Caspar Schiele.

Mayer versäumt es, diesen brutal-einleuchtenden Beleg seiner These anzubringen. Die Stigmatisierung der Frau als „Verderberin“ kursierte als literarischer Allgemeinplatz und Malerphrase. Bilder der kaltherzig-kindlichen Betörerin Salome aka femme fatale verloren in Jahrhunderten nicht ihren Kurswert.

„Das Weiblich-Unheimliche war nicht zu domestizieren.“

„In dreifacher Topik vollzieht sich im … 19. Jahrhundert … das Scheitern von Aufklärung vor den weiblichen Außenseitern: als permanente Neudeutung des Skandals der Jeanne d’Arc; als Verwandlung Judiths in eine bürgerliche Heroine; als Transformation der Dalila zum Vamp“.

Scharen von dämonischen Undinen geistern durch die Belle Époque. Die aus allen möglichen Fingern gesogene, noch nicht mal in der Brüchigkeit biblischer Historizität mit dem Namen Salome verknüpfte, im 19./20. Jahrhundert von Aubrey Beardsley, Lovis Corinth, Edvard Munch, Franz von Stuck und Oskar Kokoschka zu einem Epochen-Topos hochgejazzte Story bildet ein eigenes Genre. Zuvor war der Tanz der Salome/Salome mit dem Haupt des Johannes von Benozzo Gozzoli, Bartolomeo Veneto, Tizian, Lucas Cranach dem Älteren und Caravaggio gemalt worden.

Im Präsens von Damals

Herodes Antipas lässt Johannes den Täufer köpfen und das Haupt seiner Stieftochter, der blendenden Tänzerin Salome, auf einer Schale servieren. Jener ist die Sache eher wurscht. Sie entsprach lediglich einen Wunsch ihrer Mutter Herodias, als sie des Täufers Tod verlangte. Zuvor hatte sich der zweite Mann ihrer Mutter nach einem sagenhaften Auftritt der Tochter seiner zweiten Frau, Nichte und Ex-Schwägerin mit einem Schwur zu beinah jedem Gunstbeweis verpflichtet.

Israelischer Held

In Peter Paul Rubens um 1610 entstandenen Deutung der Samson-und-Dalila-Sage verliert ein titanischer Nasiräer den Status der Unbesiegbarkeit schlafend im Schoss seiner verräterischen Geliebten. Der Vorläufer des Achilleus und Siegfried verkörpert muskulöse Harmlosigkeit. Samsons physische Hypertrophie signalisiert männliche Anmut. Hinter der bildschönen Traumwärterin hält sich eine vom Künstler ohne biblische Vorlage in Szene gesetzte, grantig wirkende Greisin. Offensichtlich symbolisiert sie das Böse. In der Bildsprache seiner Zeit empowerte sich Rubens mit einer eindeutigen, allen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen verständliche Ansage. Dalilas schöne Larve verbirgt ein verdorbenes Wesen.

Die Physionomie der Gemeinen präsentiert das wahre Antlitz der Verderberin eines israelischen Helden. Dazu bald mehr.

Aus der Ankündigung

Vom »Denkparadox« und der zugleich geschichtlichen Realität ausgehend, »daß die Anerkennung von Lebensrecht und Würde der existentiellen Außenseiter am besten in jener Ära gesichert war, da adlige Aufklärer unter dem Ancien Régime die bürgerlichen Forderungen vertraten«, entdeckt Mayer das Scheitern des Bürgertums im Versuch, das Unvereinbare zu verbinden: die Forderung nach Sicherung bourgeoiser Herrschaft mit der nach freier individueller Verwirklichung – wie außenseiterisch sich diese als existentiell veranlagte Normabweichung auch ausnehme. Richtet sich Mayers Blick vom historisch Erfahrenen auch wieder nach vorn, fordert er die Fortsetzung von »ihren bürgerlichen und geschichtlichen Ursprüngen abgelöster« Aufklärung als der »permanenten Revolution«, so doch in erklärter Gegenstellung zu einem abstrakt bemühten Utopismus allgemein-gesellschaftlicher Emphase, in der Hinwendung zum letztlich maßgebenden Bedürfnis und Anspruch des Einzelnen. Das Buch entwickelt seine Problematik beispielhaft und zentral an der Stellung bürgerlicher Gesellschaft und ihrer Literatur zur Frau, zu gleichgeschlechtlicher Liebe und Judentum. Es gelingt ihm deren darstellerische Bewältigung aus stupender Belesenheit und in methodischer Schmiegsamkeit.

Zum Autor

Der Wissenschaftler, Kulturkritiker und Schriftsteller wurde am 19. März 1907 in Köln geboren. Er studierte Jura, Geschichte und Philosophie in Köln, Bonn und Berlin. Als Jude verfolgt, war er von 1933 bis 1945 in der Emigration in Frankreich und in der Schweiz. Von 1948 bis 1963 lehrte er Geschichte der Nationalliteraturen an der Universität Leipzig. Zwischen 1965 und 1973 war er Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der Technischen Universität Hannover. Danach lebte er als Honorarprofessor in Tübingen.

1935, im Exil, begann er mit den Vorarbeiten für sein großes Werk über Georg Büchner; ohne Zuspruch von Carl J. Burckhardt wäre das Opus magnum nicht beendet worden. 1972 erschien eine Neuausgabe im Suhrkamp Verlag. 40 Titel von ihm sind seitdem in »seinem« Verlag publiziert worden, darunter Bücher über Goethe und Brecht, Thomas Mann und Richard Wagner; der letzte in diesen Tagen: »Erinnerungen an Willy Brandt«. Bundeskanzler Schröder drückte darüber brieflich noch seine Hochachtung aus.

Hans Mayer war ein Lehrer für uns Deutsche. Ein Wissenschaftler, der mitten im Stalinismus Autoren wie Kafka, Proust, Joyce und Bloch verteidigte, der, wo immer in der Welt er lehrte, Literatur befragte, ob sie geeignet sei, Humanität zu befördern. Ein Gelehrter zwischen den Fronten, dessen wichtigste Werke nicht zufällig den Unbotmäßigen und »Außenseitern« gelten. Seine Erinnerungen waren Erinnerungen eines »Deutschen auf Widerruf«. Die Beschwörungen eines anderen Deutschland bereiteten neuen Kräften wie Uwe Johnson den Weg.

Hans Mayer ist Ehrenbürger der Städte Köln und Leipzig, Ehrendoktor der Universitäten in Brüssel, Wisconsin und Leipzig, Ehrenprofessor der Universität Peking, Träger des »Großen Verdienstkreuzes mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland«.

Hans Mayer, Nestor der deutschen Literaturwissenschaft, starb am Sonnabend,
dem 19. Mai 2001, im Alter von 94 Jahren in Tübingen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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