Max Claro - Freifallfieber

#TexasText/Jamal Tuschick Max Claro, „Der Rausholer“ - Da Nang im Dezember 1971. Michael Miller, ein in München geborener Fallschirmjäger, Einzelkämpfer und Sanitäter der 101st Airborne Division, begegnet Captain Winslow „Barry“ Meeker in ...

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Packender Agententhriller nach wahren Begebenheiten

Um einer Gefängnisstrafe wegen Fahnenflucht zu entgehen, verpflichtet sich Michael Miller für die CIA dubiose Zielpersonen aus Ostblockländern und dem Mittleren Osten in den Westen zu schleusen. Sein größter Coup wird jedoch die Befreiung von 141 deutschen Geiseln aus der Islamischen Republik Iran im Auftrag der Bundesrepublik Deutschland. Sehen Sie auch hier und hier.

Donnerndes Ego

Da Nang im Dezember 1971. Michael Miller (ursprünglich Müller), ein in München geborener Fallschirmjäger, Einzelkämpfer und Sanitäter der 101st Airborne Division, begegnet Captain Winslow „Barry“ Meeker in einem Zelthospital.

Ohne Einsicht in die bevorstehende amerikanische Niederlage strebt Barry zurück an die Front. Fast zwei Meter groß, raucht und trinkt der polyglotte, zweimal angeschossene, mit einem donnernden Ego gesegnete Hubschrauberpilot alle Teufel unter den Tisch, um „auch noch nach zehn Dosen Bier stocknüchtern“ aus dem „Steppenwolf“ zu zitieren.

Die Unsterblichen

Immer wieder aus der Erde Tälern/Dampft zu uns empor des Lebens Drang: Wilde Not, berauschter Überschwang,/Blutiger Rauch von tausend Henkersmählern,/Krampf der Lust,/Begierde ohne Ende,/Mörderhände ...

Max Claro, „Der Rausholer“, Roman, Heller Verlag, 365 Seiten, 19,90 €, auch als Taschenbuch, Hörbuch und eBook erhältlich

Michael zeigt sich beeindruckt von Barrys verwegener Vielfältigkeit. Für einen Schlepperlohn begleitet er den überbordenden Hasardeur in eine Bar. Da lernt das Greenhorn Ulf Peterson kennen, der als Krankenpfleger auf dem Hospitalschiff Helgoland arbeitet. Nebenbei erfährt Michael, dass viele Animierdamen verdeckt operierende Offiziere des Vietcongs sind, denen die US-Military Intelligence Desinformationsspezialisten zuführt.

„Uncle Sam zahlt denen jeden Tag fette Zulagen.“

*

Zum ersten Mal landet Michael in einer heißen Zone. Ehe er sich versieht, quillt ihm ein „Darminhalt in sämtlichen Verdauungsstufen“ entgegen. Der Gestank ist bestialisch. Nach zwanzig Minuten auf dem Schlachtfeld erlebt der Debütant die Versorgung eines glatten Durchschusses als heilsame Erholung. Dann wird er selbst zum Gefecht herangezogen. Er plagt sich mit dem biblischen Tötungsverbot und verspricht sich, in jedem Fall am Feind vorbei zu schießen. Als der Feuerbefehl die Soldaten aus der Deckung zieht, sieht Michael eine Baumschule auf sich zukommen. Die Vietcong-Kombattanten tragen „abenteuerliche Pflanzen und Sträucher auf ihren Köpfen“. Neben Michael bricht Bill zusammen. Er hat ein Loch im Kopf. Blut- und Hirnwasser treten aus. Trotzdem spricht der Verletzte. Er beklagt eine höchst irritierende Sehstörung.
Michael hält auch die psychisch Eingeschnappten für kampfunfähig. Er macht den Fehler, sich entsprechend zu äußern. Ein Sergeant kontert: „Wer noch eine Waffe halten kann, kann auch noch kämpfen.“
Michael entzieht sich dem Regime. Er desertiert im Rettungshubschrauber und steigt bald in begleitender Funktion in ein Ambulanzflugzeug, das nach Korea fliegt. In der Luft nimmt er die Identität eines gerade Verstorbenen an.
„Ich tauschte unsere Dog Tags.“

Demolition Lessons

Ich schenke mir die Details der Verwandlung vom Deserteur zum CIA-Agenten. Michael sitzt halbwegs auf dem Kackeimer in einer Militärarrestzelle, als man ihn mit einem Angebot ködert, dass der Delinquent nicht ausschlagen kann. Jetzt heißt er Martin Cooper. Also nenne ich ihn auch so.

Martin durchläuft das Programm auf der Farm in Camp Peary. Sie erinnern sich. Das wurde gründlich besprochen. Siehe Amaryllis Fox, „Life Undercover. Als Agentin bei der CIA“ …

Den Feinschliff gibt es auf der Farm. Sie liegt irgendwo im ländlichen Virginia. Da bildet die Agency solche Agent:innen aus, die mehr können müssen, als in der Rolle einer zivilen Botschaftsangehörigen nicht durchzufallen. Auf der Farm bringt man den Debütant:innen Bump bei. So nennt man die Herbeiführung einer Begegnung unter den Anzeichen des Zufälligen.

Martin genießt besonders in Demolition Lessons den Umgang mit Dynamit, Plastiksprengstoff und hausgemachte Explosives. Während er lernt, K.o.-Tropfen zu destillieren und Leute mit Hokuspokus zu verwirren, nimmt die Watergate-Affäre* Gestalt an.

*„Die Watergate-Affäre ist benannt nach dem im Zentrum der amerikanischen Hauptstadt Washington gelegenen Watergate-Gebäudekomplex, in dem sich Anfang der 1970er Jahre das Hauptquartier der Demokratischen Partei befand. In ihm verhaftete die von dem Wachmann Frank Wills verständigte Polizei in der Nacht zum 17. Juni 1972 fünf Einbrecher, die offenbar versucht hatten, Abhörwanzen zu installieren und Dokumente zu fotografieren.“ Wikipedia

CIA-Direktor Robert Helms fragt seine Schüler:innen: „Was haben die Einbrecher … falsch gemacht.“

Die Antwort lässt er sich nicht nehmen:

„Sie haben sich erwischen lassen.“

Freifallfieber

Michael Müller aka Michael Miller aka Martin Cooper hat das Springer-Gen. Wenn andere mit Psychotechniken ihre Angst in Schach halten und für sie sich gerade alles darum dreht, den Mut nicht zu verlieren, juchzt Michael in den höchsten Tönen seelisch-sexueller Erfüllung.

Der Tote im Zug

Paradoxe Reaktionen erlauben kein stromlinienförmiges Leben. Sie gestatten aber einen Avantgardismus in eigener Sache. Einzelkämpfer Michael bietet sich der CIA als Idealbesetzung in der Rolle eines Agenten an, war es ihm doch möglich, in einem Worstcase-Szenario binnen achtundvierzig Stunden zweimal die Identität zu wechseln und als Gesuchter nahezu mittellos zigtausend Flugmeilen abzureißen. Man trimmt ihn auf der Farm, dem CIA-Ausbildungszentrum. Da verbessert Michael seine Nahkampf-Skills auch mit Krav Maga-Lektionen.

Eingebetteter Medieninhalt

Als Escape Agent betreibt er von München aus Fluchthilfe auf Honorarbasis mit Erfolgshonorar. Einmal bringt ihn ein Kollege der Konkurrenz um die Prämie, indem er den von Michael Betreuten erschießt. Michael versucht trotzdem, etwas herauszuschinden. Immerhin hat er die Leiche (übrigens in der Rolle eines Schlafwagenschaffners) durch den Eisernen Vorhang geschmuggelt. Die Fokussierung zeigt den Charakter.

Stay tough & tight. Stay focused. Stay in shape.

Plötzlich erscheint Barry auf der deutschen Bildfläche. Sie erinnern sich.

Rückblende/Gunship Boogie

Da Nang im Dezember 1971. Captain Winslow „Barry“ Meeker ist einer von den Feuerfesten. Fast zwei Meter lang, raucht und trinkt der polyglotte, bereits zweimal angeschossene, mit einem donnernden Ego gesegnete Hubschrauberpilot alle Teufel unter den Tisch, um „auch noch nach zehn Dosen Bier stocknüchtern“ aus dem „Steppenwolf“ zu zitieren.

Die Unsterblichen

Immer wieder aus der Erde Tälern/Dampft zu uns empor des Lebens Drang: Wilde Not, berauschter Überschwang,/Blutiger Rauch von tausend Henkersmählern,/Krampf der Lust,/Begierde ohne Ende,/Mörderhände ... Angst- und lustgepeitschter Menschenschwarm/Dunstet schwül und faulig, roh und warm,/Atmet Seligkeit und wilde Brünste,/Frisst sich selbst und speit sich wieder aus,/Brütet Kriege aus und holde Künste,/Schmückt mit Wahn das brennende Freudenhaus …

Der minderjährige Fallschirmjäger und Sanitäter (der Screaming Eagles aka 101st Airborne Division) Michael lernt Barry in einem Zelthospital kennen. Jetzt evakuieren Barry und Michael für die CIA interessante Leute in einem Hubschrauber aus dem Ostblock. Sie fliegen unter dem feindlichen Radar.

Nebenbei absolviert Michael drei Ausbildungen. Er arbeitet kurz in der Münchner Universitäts-Nervenklinik, begeistert vom Wahnsinn der anderen. Aber dann kommt das wieder, was man als Empathie-Leck beschreiben könnte.

„Wenn man so ziemlich alle Fallvarianten erlebt hatte, wurde es langweilig.“

Michael hat jedenfalls kein Helfersyndrom. Sympathisch finde ich, dass er erst gar nicht versucht, sein abenteuerliches Herz unter einem Phrasenbeet zu begraben.

Eros & Thanatos poussieren gern in Krankenhäuserhinterzimmer. Kaum mischt Michael in einer Schwabinger Notaufnahme mit, schenkt ihm OP-Schwester Birgit „das schönste Lächeln, das ich je bei einer Frau gesehen habe“.

Birgits Küsse haben die Intensität von Internal Force. Sie gehen durch und durch und erledigen all das, was normalerweise nur durch die Manipulation von Geschlechtsteilen erreicht werden kann. Der Autor beschreibt die Einheit von Action & Akteur auf der Stufe höchster Perfektion. Im Gegenzug bringt der Begünstigte Birgit in Kontakt mit der Mühelosigkeit des Freifallspringens in den Saumseligkeiten der Angstbefreiten.

Mit Birgit im Bett

Nachts um drei klingelt das Telefon. Michael liegt mit Birgit im Bett. Sie hört, wie eine Frauenstimme ihrem Liebhaber Befehle erteilt und ist sofort alarmiert. Doch wieder beweist Michael seine Verlässlichkeit im Rahmen eines von der Norm abweichenden Verhaltens. Zwar zweifelt er nicht an seiner Liebe, doch hält ihn Birgits eifersüchtige Wut nicht davon ab, sie nicht nur zu seinem eigenen Nachteil im Unklaren zu lassen, sondern auch auf der Stelle zu verlassen, um seinen Job als CIA-Agent zu machen.

Michael reagiert wie einer von George Washingtons Minutemen. Die Zeit bis zur Abfahrt des ersten Zuges (von München) nach Frankfurt verbringt er lieber auf dem Hauptbahnhof in dem Verkehrsrollenspiel zwischen Passant und Passagier, als mit Erklärungen zur Rettung der heimischen Vertrautheit.

Am 12. März 1979 trifft Michael seinen Führungsoffizier Joe Smith auf der Rhein-Main Airbase. Chomeini räumt gerade den Iran auf, und Michael soll Ali Reza Khan, einen ehemaligen Ölminister des Schahs, außer Landes bringen. Michael feilscht um die Erhöhung seines Fixums, um keine Kopfgeldpleite zu riskieren. Nach dem ursprünglichen Angebot beträgt die Erfolgsprämie 50.000 Dollar. Doch was, wenn Ali Khan bei der Small Raushole* die finale Biege macht?

Im Gegensatz zur *Big Raushole.

Michael lässt sich zwanzigtausend Dollar garantieren, dann fliegt er als Reuters-Reporter Thomas Freeman mit British Airways via London-Heathrow nach Teheran Mehrabad Airport. Jetzt halten Sie sich fest. Im Gepäck führt Freeman „Bömbchen“ in Zigarettenschachteln in den Iran ein. Eine für ihn vorgesehene Beretta ließ er zurück, obwohl sie unbeanstandet mitgeflogen wäre.
Auf den Straßen Teherans demonstrieren Tausende in einem Orkan frenetisch jubilierender Zungen und trillernder Lippen gegen Jimmy Carter. „Eine überlebensgroße Pappmascheepuppe“ geht als Präsidentenattrappe in Flammen auf. Amerikanische Flaggen werden verbrannt. Amerikanische Journalist*innen beziehen Dresche. Michael begreift sofort, dass ihn seine Legende nicht weiterbringt. Er taucht unter und steigt in einem Schuppen ab, den er von seinem ersten Iran-Trip kennt; absolviert in einem VW-Käfer, den Michael für fünfzig Mark gekauft hatte.

Im weiteren Verlauf der Ereignisse setzt Michael so oft auf sein Glück, dass ich in der Gegenwart von Damals unbesehen dagegen gewettet hätte, eingedenk der Erfahrungsbinse: So viel Schwein hat kein Mensch. Michael zeigt Misstrauen an der richtigen Stelle, so wie er den Richtigen vertraut. Seine Intuition ragt ins Sagenhafte.
Michael gelingt es tatsächlich, Ali Khan in der CIA-Zentrale abzuliefern und Birgit zu besänftigen.
„Der Sex wurde … immer besser und machte uns regelrecht süchtig aufeinander.“

Screaming Eagles

Schon im Herbst Achtundsiebzig erkennt Michel Foucault im Vorlauf eines Umsturzes, der je nach Lesart als Islamische oder als Iranische Revolution kategorisiert wird: „Das ist vielleicht die erste große Erhebung gegen die weltumspannenden Systeme, die modernste und irrsinnigste Form der Revolte.“

Bis 1979 bleibt die Bundesrepublik der wichtigste Handelspartner des Irans. Entsprechend diplomatisch beurteilt die Regierung Schmidt/Genscher offiziell Ausfälle im Zuge des Regimewechsels. Die Zäsur verläuft quer zur Hauptkampflinie im Kalten Krieg. Sie trennt Schah Mohammad Reza Pahlavi von der Macht und etabliert die Mullahherrschaft unter Ajatollah Ruhollah Chomeini. Zugleich weist sie als Geschichtspfeil eine neue Konfliktrichtung an. Die sowjetische Intervention in Afghanistan findet einigermaßen zeitgleich statt und läutet eine neue Phase islamistisch begründeter Militanz ein. Heute sprechen Historiker:innen von einer Zeitenwende, die ihren Anfang nahm in der Beendigung eines als Agentur des Westens dirigierten Satellitenstaatswesens im Embryonalstadium eines reichen „Entwicklungslandes“.

Bundesregierungsintern ergeben sich alarmierende Einschätzungen. Man erstellt Evakuierungspläne und ermutigt rund fünftausend expatriierte Westdeutsche zur beiläufigen Ausreise. Bundesgrenzschutzbeamt:innen richten sich mit Flankierungsaufgaben auf Zypern ein. Zwei Lufthansamaschinen stehen permanent flugbereit für konzertierte Maßnahmen nach einem erweiterten Begriff der Geiselbefreiung; da sich herauskristallisiert hat, dass alle im Iran verbliebenen Bundesbürger:innen in der Erpressungslogik der Klerikalen als Aktiva auftauchen.

Die in der Hegemonialperspektive verhafteten Zeitgenossen sehen nur den Kollaps einer neo-kolonialen Struktur. Nichts funktioniert mehr richtig. An vielen Schaltstellen agieren Analphabeten, die von Revolutionsgardisten wie Marionetten eingesetzt werden. Kohorten der Unterprivilegierten agieren in Milizen und treiben das westlich orientierte Bürgertum mit Gewaltfolklore in den Opportunismus.

In diesem Klima einer generellen Verwerfung schalten deutsche Behörden unter der Führung des in China geborenen Diplomaten Hans Werner Lautenschlager unseren Mann aus München ein. Es geht darum, die 141 deutsche Staatsbürger:innen umfassende Restbelegschaft auf einer Baustelle am Persischen Golf heimlich außer Landes zu schaffen. Die Kraftwerk Union AG (KWU), eine Tochter von Siemens und AEG, errichtet seit 1975 in Buschehr ein Atomkraftwerk. Das Projekt beziffert sich in gigantischen Zahlen. Im Augenblick ruht der Betrieb und die letzten Deutschen dienen ahnungslos nur noch als politische Spielbälle. Sie glauben, die Verzögerung ihrer Ausreise sei dem Ansturm auf die Flughäfen geschuldet.

...

Michael bringt sich als Dagobert Dussmann ins Spiel.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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