Medialer Hinterhalt

#TexasText/Jamal Tuschick Joan Didion, „Slouching Towards Bethlehem“ - Der Santa-Ana-Wind heult mit hundertsechzig Stundenkilometern durch Eukalyptushaine, die ursprünglich dem Schutz von Orangenplantagen dienten

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„Man muss die Schranken der Mode niederreißen, um Aufklärung freizusetzen.“ Hans Mayer

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„Kein Wind ist demjenigen günstig, der nicht weiß, wohin er segeln will.“ Michel de Montaigne

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„Ich hörte ihn im Wirtshaus schwatzen; ich habe aber seine Anmaßung nicht gestraft; denn was kümmert mich fremde Torheit?“ Mutianus Rufus über den wandernden Wahrsager Johann Georg Faust. Dessen Existenz diente Goethe als Vorlage für seinen „Faust“.

Medialer Hinterhalt

„Unheilvoll“ nennt Joan Didion eine Gegend, in der „die Gepflogenheiten des Mittleren Westens“ bildbestimmend sind. In dieser „Endstation“ gibt es mehr Selbstmorde, Scheidungen und Trailerpark-Existenzen als im kalifornischen Durchschnitt.

Das San Bernardino Valley liegt im Abseits kalifornischer Klischeekulissen und so auch fern „der subtropischen Sonnenuntergänge“ und anderer pazifischer Stimmungen.

Hinter den Bergen lauert die Wüste.

Der Santa-Ana-Wind heult mit hundertsechzig Stundenkilometern durch Eukalyptushaine, die ursprünglich dem Schutz von Orangenplantagen dienten. Ruinös geringe Niederschlagsmengen bestimmen die Verhältnisse.

„Unheilvoll“ nennt Joan Didion eine Gegend, in der „die Gepflogenheiten des Mittleren Westens“ bildbestimmend sind. In dieser „Endstation“ gibt es mehr Selbstmorde, Scheidungen und Trailerpark-Existenzen als im kalifornischen Durchschnitt.

Topografische Hauptlinien

Die Zugezogenen siedeln auf den Trümmern ihrer Illusionen. Sie vereint, das Bild von ihrer neuen Heimat aus „Filmen und Zeitungen“ bezogen zu haben. Das verkündete die Autorin 1966 in einer Gerichtsreportage, die zuerst unter dem Titel How Can I Tell Them There’s Nothing Left in der Saturday Evening Post erschien, und 1968 in Didions erster Essaysammlung, Slouching Towards Bethlehem, die Überschrift Some Dreamers of the Golden Dream trug.

Joan Didion, „Slouching Towards Bethlehem“, Essays, aus dem Amerikanischen von Antje Rávik Strubel, Ullstein, 22.99 Euro

„Slouching Towards Bethlehem“- Der Generaltitel zitiert die Schlusszeile eines Gedichts von William Butler Yeats:

„Schlurft bethlehemwärts, um zur Welt zu kommen?“

Didion kapriziert sich auf die Schilderung des mittelständigen Milieus von Alta Loma. Eine Reihe von Wohlstandsverordnungen garantiert einen an der Grenze zum Luxus vorbeischrammenden Lebensstil. Didion zeichnet die topografischen Hauptlinien nach. An manchen Ecken darf sich kein Gewerbe ansiedeln.

„Darüber hinaus müssen Häuser nördlich der Banyan Street mindestens 1/2 Morgen große Grundstücke haben. (Wikipedia)“

Didion findet die Banyan Street „seltsam und unnatürlich“. In „dichtem Blattwerk“ entdeckt sie „das Grün eines Albtraums“. So nähert sich die Autorin einem mitternächtlichen Vorgang, der Schlagzeilen machte. Auf der Banyan Street ging am vom 7. Oktober 1964 gegen nulluhrdreißig der Volkswagen des Ehepaars Lucille Marie und Gordon ‚Cork‘ Miller in Flammen auf. Lucille Miller (1930 - 1986) rettete sich. Der auf dem Beifahrersitz schlafende Gatte verbrannte in der Fahrzeugkabine. In der ersten Vernehmung gab Lucille Miller an, alle möglichen Anstrengungen unternommen zu haben, um ihren Mann zu retten.

Genregipfel

Ich greife vor. Lucille Miller wird umgehend des Mordes an ihrem Mann beschuldigt, angeklagt, 1965 zu lebenslänglicher Haft verurteilt und 1972 auf Bewährung entlassen.

Die Staatsanwaltschaft stellte die Behauptung in den Prozessraum, Lucille Miller sei von einem Klassiker des Film Noir aus dem Jahr 1944 inspiriert worden. Das Drehbuch zu Double Indemnity entsprang einer Premium-Kollaboration. Regisseur Billy Wilder verfasste es gemeinsam mit Raymond Chandler. Interessant bleibt auch der Vorlagenlieferant James M. Cain. Der Genregipfel spielt mit einer Versicherungsdelikatesse. Eine von Barbara Stanwyck verkörperte Hausfrau steht unter dem Verdacht, ihren Ehemann (Fred MacMurray) so getötet zu haben, dass sich ein Anspruch auf doppelte Entschädigung ergibt. Die Klausel sieht eine Verdopplung der Police-Auszahlung vor, sofern ein Unfall die Todesursache ist.

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Didion vermisst Lucille Millers Laufbahn. Die Tochter apokalyptisch gestimmter, sendungsstarker Adventisten absolvierte folgsam den ihr vorgeschriebenen religiösen Parcours. Sie besuchte ein College für Adventist:innen und lernte da ihren Mann kennen, der als Sanitätsoffizier zunächst ein Kasernenleben auf Guam (der Hauptinsel des vulkanischen Marianen-Archipels) vorgibt. Der strategische Hotspot war Ausgangspunkt der US-Luftoperationen gegen Nordkorea. Nach einer Spanne im pazifischen Nirgendwo zwischen Hawaii und Japan, etabliert sich das Paar im Irgendwo von Oregon, bevor es mit den üblichen Erwartungen nach Kalifornien zieht. Die Anschrift lautet 8488 Bella Vista Drive. Drei Kinder gehen aus der unglücklichen Ehe hervor. Lucille und Cork kämpfen mit Schulden und Scheidungsanwandlungen.

Lucille geht fremd. Sie wird schwanger von ihrem Liebhaber, dem Anwalt Arthwell Hayton. Das offenbart erst der Prozess.

In der Nacht des brennenden Käfers fahren Lucille und Cork, angeblich um Milch zu kaufen, zu einem Mayfair Market in der Banyan Street. Cork schläft im Auto ein, falls er nicht sediert auf den Beifahrersitz expediert wurde. Dazu bald mehr.

Aus der Ankündigung

»Diese Sammlung kritischer Reportagen über die späten Sechzigerjahre in ihrem Heimatstaat Kalifornien, machte Didion zum Star des New Journalism.« Süddeutsche Zeitung Das weiße Album ist ein essenzielles Werk und ein Klassiker der amerikanischen Autobiografie. In ihren Essays untersucht Joan Didion mit der ihr eigenen Klarsicht Akteure, Schlüsselereignisse, Bewegungen und Trends der Sechzigerjahre – darunter Charles Manson, die Black Panther und Shopping Malls. Aus einer intellektuellen Verstörung heraus schreibt sie über den American Dream, einen Traum, der auch im Scheitern nichts von seiner Faszinationskraft eingebüßt hat.

Zur Autorin

Joan Didion, geboren 1934 in Sacramento, Kalifornien, arbeitete als Journalistin für verschiedene amerikanische Zeitungen und war u. a. Mitherausgeberin der Vogue. Sie gilt als eine der wichtigsten Stimmen der amerikanischen Literatur, die mit ihren fünf Romanen und zahlreichen Essaybänden das intellektuelle Leben der USA im 20. Jahrhundert entscheidend prägte. Joan Didion verstarb im Dezember 2021.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

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