Mittagessen um Mitternacht

#TexasText/Jamal Tuschick Joan Didion, „Das weiße Album“ - 1968 ernennt sie die Los Angeles Times - im Verein mit der Gouverneursgattin Nancy Reagan und der Olympiasiegerin Debbie Meyer - zur „Frau des Jahres“

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Schreiben sei „ein aggressiver, sogar feindlicher Akt“, behauptet Joan Didion. Die Autorin/der Autor dränge ihr/sein Ich den Lesenden auf. Verminderungen des Hoheitsanspruchs durch Anspielungen und Aussprachen entsprächen lediglich „der Taktik eines heimlichen Tyrannen“.

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Ronald „Rea-gun“ Reagan, noch lange nicht Präsident, regiert von 1967 bis 1975 einen der - im Rahmen des Achtundsechziger-Aufbruchs - rebellischsten Bundesstaaten. Der außerparlamentarischen Opposition so wie allen anderen subkulturellen Gegenöffentlichkeitsplattformen gefällt Reagan als Hassfigur. Er gibt bereitwillig den harten Hund. 1969 lässt er Proteste auf dem Berkeley-Campus von der Nationalgarde auflösen. Die Bilder gehen um die Welt. Nancy Reagan liefert mit ihrer Homestory das Kontrastprogramm. Sie stützt ihren Mann, der unter seinesgleichen als „guter Kerl“ kursiert.

Der Vater bot einen Drink an

Im Frühjahr 1952 erhält Joan Didion einen niederschmetternden Brief aus Stanford. Die Debütantin erwägt, die Absage mit Selbstmord zu quittieren. Sie begnügt sich mit einem kurzen Rückzug in den Wandschrank.

„Als das fand in der harmlosen Welt des ländlichen Kaliforniens … statt.“

Joans Enttäuschung erschöpft sich in ihrer Sphäre.

„Keine elterlichen Hoffnungen lasteten auf der Tatsache, ob ich angenommen wurde oder nicht.“

Der Vater reagiert stoisch auf die Mitteilung.

„(Er zuckt) mit den Schultern und (bietet) Joan einen Drink an.“

Die Frage nach der „richtigen“ Universität stellt sich ihm nicht. Die „soziale Stellung“ der Familie ist „stabil“. Die Tochter muss zum Gedeihen ihrer Herkunftszelle nicht mehr beitragen als die Früchte eines unbeschwerten Gemüts.

Der Aufstieg war das Werk vorangegangener Generationen. In der Gegenwart warnt kein Zeichen vor dem Abstieg. Die Gelassenheit der Wohlhabenden ist so groß, dass sie gar nicht erst auf die Idee kommen, ihre Chancen mit den Optionen des Nachwuchses zu „vermischen“. In der Segregation steckt ein verborgener Stolz. Die Lebenszeche bringen die Älteren mühelos auf. Sie sind aus dem Schneider, während Joan in der Schwebe zwischen Gelingen und Scheitern vibriert.

„Wird ein Ort dem Auge zugänglich, ist er in bestimmter Hinsicht nicht länger der Fantasie zugänglich.“ Joan Didion

Dramatische Emphase/TV-Schocks

1968 ernennt sie die Los Angeles Times - im Verein mit der Gouverneursgattin Nancy Reagan und der Olympiasiegerin Debbie Meyer - zur „Frau des Jahres“. Ausgezeichnete Personen begegnen sich, als Joan Didion Nancy Reagan einen investigativen Besuch abstattet. Anstatt die kalifornische First Lady zu interviewen, beobachtet die Autorin die Arbeit eines TV-Teams vor Ort. Die Fernsehleute animieren die Hausherrin, in arrangierten Szenen genau „das zu tun, was sie normalerweise … tun (würde)“.

Joan Didion, „Das weiße Album“, Reportagen, aus dem Amerikanischen von Antje Rávik Strubel, Ullstein, 22.99 Euro

Nancy Reagan stimmt allem zu. Didion registriert „dramatische Emphase“ bei der Ex-Schauspielerin, die zweifellos nichts nötig hat; sich aber trotzdem für nichts zu schade zu sein scheint. Nancy Reagan legt Wert auf die Feststellung, dass sie im Rahmen der Inszenierung ihren wahren Bedürfnissen nachkommt; in einem Prozess, der die Forderungen des Regisseurs mit den häuslichen Abläufen synchronisiert und harmonisiert. Glückliches Kalifornien könnte der Titel des Rührstücks lauten.

Ich beziehe mich gerade auf Joan Didion, „Was ich meine“, Essays, aus dem Amerikanischen von Antje Rávik Strubel, Ullstein, 18.99 Euro

Didion erkennt koinzidierende Interessen. Beide Parteien legen Wert auf eine artifizielle Herangehensweise. In der Rolle der Gouverneursgattin suggeriert Nancy Reagan den wahrgewordenen „Tagraum einer Mittelschichtsamerikanerin“.

„Jedes Detail stimmt.“

Zur Arrondierung: Ronald „Rea-gun“ Reagan, noch lange nicht Präsident, regiert von 1967 bis 1975 einen der - im Rahmen des Achtundsechziger-Aufbruchs - rebellischsten Bundesstaaten. Der außerparlamentarischen Opposition so wie allen anderen subkulturellen Gegenöffentlichkeitsplattformen gefällt Reagan als Hassfigur. Er gibt bereitwillig den harten Hund. 1969 lässt er Proteste auf dem Berkeley-Campus von der Nationalgarde auflösen. Die Bilder gehen um die Welt. Nancy Reagan liefert mit ihrer Homestory das Kontrastprogramm. Sie stützt ihren Mann, der unter seinesgleichen als „guter Kerl“ kursiert.

Auf eine diskrete Weise beinah aufsässig präsentiert Nancy Reagan den Zuschnitt ihres Lebens auf der konservativen Ideallinie. Die Chronistin beweist ihre Klasse, indem sie nicht allein diese Spur nachzeichnet, sondern auch die klandestine Intransigenz überliefert, mit der die Reagans den amerikanischen Traum gegen dessen Kritiker:innen verteidigen.

TV-Schocks

Didion erzählt, wie sie in den 1960er Jahren für überregional kursierende Periodika den Schaum der Gegenwart von brackigen Lachen schöpfte. Sie pendelte zwischen Los Angeles, New York und Honolulu und kam dabei vielen Zeitgenoss:innen „exzentrisch“ vor. Ihre Weltläufigkeit gab Didion das Gefühl, „jederzeit eine neue Version (ihrer) … Geschichte beim Zimmerservice bestellen (zu können)“. Obwohl sie als Journalistin direkten Zugang zu den Bestimmer:innen der Epoche hatte, erlebte sie Volten, Zäsuren und tragische Momente wie Jedefrau als TV-Schocks. Im Royal Hawaiian Hotel* sah sie „Robert Kennedys Beerdigung … und die ersten Berichte über das Massaker von My Lai“.

*“A classic and unforgettable epicurean experience awaits you.” Quelle

Sie liest noch einmal alles von Orwell in dem Luxusresort am Strand von Waikiki.

“Waikiki reframes your point of you.” Quelle

Morgen mehr.

Aus der Ankündigung

»Diese Sammlung kritischer Reportagen über die späten Sechzigerjahre in ihrem Heimatstaat Kalifornien, machte Didion zum Star des New Journalism.« Süddeutsche Zeitung Das weiße Album ist ein essenzielles Werk und ein Klassiker der amerikanischen Autobiografie. In ihren Essays untersucht Joan Didion mit der ihr eigenen Klarsicht Akteure, Schlüsselereignisse, Bewegungen und Trends der Sechzigerjahre – darunter Charles Manson, die Black Panther und Shopping Malls. Aus einer intellektuellen Verstörung heraus schreibt sie über den American Dream, einen Traum, der auch im Scheitern nichts von seiner Faszinationskraft eingebüßt hat.

Zur Autorin

Joan Didion, geboren 1934 in Sacramento, Kalifornien, arbeitete als Journalistin für verschiedene amerikanische Zeitungen und war u. a. Mitherausgeberin der Vogue. Sie gilt als eine der wichtigsten Stimmen der amerikanischen Literatur, die mit ihren fünf Romanen und zahlreichen Essaybänden das intellektuelle Leben der USA im 20. Jahrhundert entscheidend prägte. Joan Didion verstarb im Dezember 2021.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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