Nächtlicher Filmriss

#TexasText/Jamal Tuschick Kari lebt da, wo andere Urlaub machen. Sie ist ein Kind der Lieblingsinsel aller Sechzigerjahre-Deutschen, diesen keimzeitlichen ... im Spätlese-Rausch des Wirtschaftswunders - Erste Bemerkungen zum zweiten Band von Gisa Paulys Sylt-Saga

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Kari Rensing lebt da, wo andere Urlaub machen. Sie ist ein Kind der Lieblingsinsel aller Sechzigerjahre-Deutschen, diesen keimzeitlichen Bundesrepublikaner:innen* im Spätlese-Rausch des Wirtschaftswunders. Ganz am Anfang, noch bevor es richtig los geht, sehen wir sie mit Farrah-Fawcett-Frisur die Folgen eines nächtlichen Filmrisses begrübeln. Gerade geht es Kari nicht besonders nach einer tagelangen Schickeria-Sex-Sause im reetgedeckten Haus des steinreichen Modedesigners Mike Heiser. Mikes Anwesen fügt sich am Rand von Kampen wunderbar in die Dünenlandschaft. Auf der Nordsee-Finca herrscht der Komment eines verschworenen Entre nous. Unter Seinesgleichen geht man aus sich heraus, tritt über seine Ufer und besteigt Gipfel der Unverbindlichkeit. Nachbilder der Swinging Sixties entstehen.

Man spricht über die Half Brothers. Mit fünf schwarzen Musikern und einer weißen Sängerin macht die Jazzkapelle Inselfurore. Auf Mikes Party sorgt die Combo für Hausmusik, ohne darum gebeten worden zu sein.

Gisa Pauly, „Café Hoffnung“, Sylt-Saga 2, Heyne, 495 Seiten, 15,-

Wir sind in den 1980er Jahren. Geistlose Tätigkeiten werden gern zu Radiomusik verrichtet. Deshalb entgeht auch niemand Modern Talking. Tritt Zeremonienmeister Mike morgens auf seine Terrasse, sieht das Meer mitunter so aus, „als stammte es aus Picassos blauer Periode“. Auch seine Frisur ist ein Kunstwerk. Mike lässt schon einmal einen Coiffeur aus Hamburg kommen. Er lebt mit seinem Freund Julian Haarbeck zusammen.

Noch existiert § 175 des deutschen Strafgesetzbuches. Er stellt sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe. Mike schwebt eine Scheinehe mit Kari vor. Die einheimische Schönheit verspricht sich Unabhängigkeit von ihren Eltern, die den Lebenswandel der Tochter missbilligen. Während die hanseatische High Society dem Vergnügen den Anstrich einer Daseinsform gibt, ohne indes je das Geschäft aus den Augen zu verlieren, führt Brit Rensing gemeinsam mit ihrem Mann Olaf das Inselhotel König Augustin. Sie erinnern sich an Brit.

Was zuvor geschah - Elvis Presley statt Rudolf Schock

Gisa Paulys Sylt-Saga-Opener „Fräulein Wunder“ ist ein literarischer Schlager mit Suchtfaktor und war 2022 ein Sommerhit.

Bikini ist nicht nur ein verstrahltes Atoll. Vielmehr gehört ein Bikini im Wirtschaftswunderland von 1959 zu den Must-haves jeder statusempfindlichen Sechzehnjährigen. Schreinertochter und Handelsschülerin Brit Heflik kämpft erbittert um das Prestigeobjekt für eine Klassenfahrt nach Sylt. Vater Edward gibt den knorrigen Gegner, während Mutter Frida sich darüber wundert, dass ihre erste elektrische Kaffeemühle der Mühelosigkeit einen weiteren Spielraum verschafft.

„Ein Knopfdruck, und schon ist der Kaffee gemahlen.“

Apropos Wunder. Gisa Paulys Roman „Fräulein Wunder“ spielt nicht nur mit einem Reizwort der Wiederaufbauära, sondern auch mit einem biografischen Detail der Titelheldin, dem Fräulein Wunder. Unter Brits Vorfahren stach die Drechsler-Dynastie Wunder hervor. Brits Vater E. Heflik schaltet und waltet meisterlich in einer Werkstatt, die immer noch als „Schreinerei Wunder“ firmiert.

Gisa Pauly, „Fräulein Wunder“, Sylt-Saga 1, Heyne Verlag, 478 Seiten, 15,-

Auch Brit erscheint Eingesessenen in ihrem Geburtsdorf Riekenbüren als „eine Deern“ aus dem Wunder-Klan, und so ruft ihr ein Geselle nach:

„Oder läuft das Fräulein Wunder schon wieder vor der Arbeit aus der Küche davon.“

Brit schmerzt die ländliche Stille (in der Nähe von Bremen). Sie wünscht sich ein Kofferradio.

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Gisa Pauly restauriert in ihrer Sylt-Saga Fassaden eines antiken Kulturkampfes. Dessen Streitpunkte und Frontverläufe hypostasieren sich in dem von Pauly exponierten Gegensatzpaar Elvis Presley versus Rudolf Schock. Der Dissens zwischen ‚up to date‘ und gestrig überlagert eine vermiedene Debatte auf der Achse Verdrängung statt Verarbeitung. Repräsentant:innen* der Adenauer-Restauration plädieren für Altbewährtes und bis zur Ranzigkeit Überkommenes. Sie wollen „keine Experimente“. Ein Hamburger Restaurantbesitzer löst einen Skandal aus, als er „eine Frau ohne männliche Begleitung“ bewirtet. Über Teenager und sogenannte Halbstarke redet man so, als sei die Pubertät eine amerikanische Erfindung. Der Rock’n’Roll-Hüftschwung avanciert zum Dekadenzgipfel. „(Er) treibt der älteren Generation die Sorgenfalten auf die Stirn.“

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In diesem Klima fühlt sich Brit generell unverstanden. Gleichzeitig stromert sie einigermaßen unbekümmert durch die Gefilde gediegener Ländlichkeit. Sie schwimmt in einem trägen Daseinsstroms, getragen von den Gewissheiten einer in Generationen abgesicherten Zugehörigkeit.

Es gibt echte und falsche Kriegerwitwen in Riekenbüren und Umgebung.

Das harte Dasein jener aus den verlorenen Ostgebieten geflüchteten Familien, deren Ernährer auf das Niveau von Handlangern und Tagelöhnern abgesunken sind, schenkt Brit wenig Beachtung. Die Tragik ihrer Familie erschöpft sich in den, einer Kinderlähmung geschuldeten Handicaps des Vaters. Edward war bereits ein ansehnlicher Heranwachsender mit dem Potential einer Premiumpartie gewesen, als ihn Poliomyelitis aus der Bahn warf, und er sich im Weiteren gezwungen sah, mit der „grauen Maus“ Frida Wunder vorlieb zu nehmen.

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Nach Sylt fährt Brit dann doch mit ihrem alten Badeanzug im Gepäck. Die Zeit der Selbstbestimmung ist noch nicht angebrochen.

Auf einem Vorhof der Freiheit geschieht das Unerwartete zwischen textilfreiem Baden und einer schicksalhaften Begegnung. Arne Augustin, Sohn eines Hoteliers, spielt im Nachkriegsansturm auf Sylt den Hotelpagen Arne Düseler. Gleich bei der ersten Begegnung erkennt Arne in Brit die Prachtausgabe einer Braut. Von nun an überschlagen sich die Ereignisse.

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Nun ist Brit selbst Mutter und ihre Tochter Kari macht da weiter, wo Brit einst in ein bürgerliches Fahrwasser einschwenkte.

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Aus der Ankündigung

Sylt, Mitte der 1980er Jahre. Brits Tochter Kari begeistert sich nicht sonderlich für die Arbeit im Café König Augustin, sie ist mehr am Schickimicki-Leben von Sylt interessiert. Dann aber scheint sich alles zum Guten zu wenden, Kari heiratet einen berühmten Modedesigner und gehört von da an zur High Society. Als sie schwanger wird, sind ihre Eltern endgültig versöhnt. Doch irgendetwas stimmt nicht mit Karis Ehe, und als ihre Tochter auf die Welt kommt, wird ein skandalöses Geheimnis offenbar.

Zur Autorin

Gisa Pauly hat zwanzig Jahre lang als Berufsschullehrerin gearbeitet, ehe sie das Unterrichten an den Nagel hängte und sich ganz dem Schreiben widmete. 1994 erschien ihr erstes Buch "Mir langt's - eine Lehrerin steigt aus!", darauf folgten zahlreiche Drehbücher und Romane. Mit den Sylt-Krimis rund um Mamma Carlotta erobert sie Jahr um Jahr die Bestsellerlisten und die Herzen der Leserinnen und Leser. Gisa Pauly zählt heute zu den erfolgreichsten Autorinnen im deutschsprachigen Raum.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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