New Yorker Kaltstart

#TexasText/Jamal Tuschick Joan Didion, „Slouching Towards Bethlehem“ - Die Autorin riecht „Flieder und Abfall“. Sie genießt den Marilyn-Monroe-U-Bahn-Lüftungsschacht-Moment: „Ich … spürte den weichen Wind an meinen Beinen, der aus dem …-Gitter kam.“

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Bereits im Winter 1991, Gorbatschow saß noch im Kreml, fing er an, seine Memoiren zu schreiben. Er machte sich Notizen wie ein Journalist, der einen Politiker beobachtet.

„Da wussten wir (Höflinge): es ist aus.“ Aus Alexander Kluge/Gerhard Richter, „Dezember“

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„Ich liebe solche Tage - ungewöhnlich einsame Tage. Ich liebe es über alles, allein zu sein. Dann lege ich mich hin, rauche, blicke ins Feuer.“ Katherine Mansfield

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„Ich (war) aus dem Westen gekommen und in einer Fata Morgana gelandet … Ich … spürte den weichen Wind an meinen Beinen, der aus dem U-Bahn-Gitter kam.“ Joan Didion über ihren New Yorker Anfang

„Mit einer Klarheit, bei der sich … die Muskeln im Nacken versteifen“, erinnert sich die Kalifornierin Joan Didion an ihren Kaltstart in New York.

Im Power-Präsens von damals

Sie ist zwanzig, und es ist Sommer. Ein Lied könnte so anfangen. In einem schicken Kleid entsteigt die Debütantin einer DC 7. New York erfasst sie mit ihren Hollywoodantennen. Filmszenen und -zitate übersteuern die Alltagswahrnehmung.

Joan Didion, „Slouching Towards Bethlehem“, Essays, aus dem Amerikanischen von Antje Rávik Strubel, Ullstein, 22.99 Euro

In allen Jukeboxes der Upper East Side läuft “When the World Was Young”.

“But where is the schoolgirl that used to be me?”

Die Autorin riecht „Flieder und Abfall“. Sie genießt den Marilyn-Monroe-U-Bahn-Lüftungsschacht-Moment: „Ich … spürte den weichen Wind an meinen Beinen, der aus dem …-Gitter kam.“ Jeden Augenblick konnte „etwas Außergewöhnliches passieren“.

Didion lebt im Rausch vieler Erstmaligkeitsempfindungen. Ihr Hotelzimmerfenster bietet eine Aussicht auf die Brooklyn Bridge. Die Klimaanlage ist auf zwei Grad gestellt. Didion bringt es nicht fertig, „die Rezeption anzurufen und darum zu bitten, die Klimaanlage auszuschalten, (da sie nicht weiß) wie viel Trinkgeld (sie) der Person, die dann hochkommen würde, geben sollte“.

Didion legt sich ein Pseudonym zu. Sie verdient so wenig, dass sie … „in manchen Wochen, um überhaupt etwas zu essen, in der Lebensmittelabteilung von Bloomingdale’s anschreiben (lässt)“. Sie verliert kein Wort darüber in den Briefen an die Eltern.

Halluzinatorischer Generaleffekt/Kolossales Trugbild

Sie will es allein schaffen. Auf eigenen Füßen zu stehen, erscheint Didion als Spiel. Arm fühlt sie sich nur an frostigen Winterabenden, wenn ihr erleuchtete Fenster Einblicke in die bürgerliche Heimeligkeit - mit Kerzen auf dem Esstisch und herausgeputzten Kindern - gewähren.

Flugstornierungskalamitäten im Weihnachtstrubel vergleicht sie eskapistisch mit „dem letzten Flug … der 1940 aus Lissabon hinausging“.

Didions New Yorker Panorama überkront die Empfindung von Unwirklichkeit.

„Mir kam nie der Gedanke, dass ich ein wirkliches Leben lebte.“

Sie vergleicht New York mit Xanadu, um nachzulegen: „Man wohnt nicht in Xanadu.“ Das gilt selbstverständlich nur für Personen, die nicht in New York aufwuchsen. Didion malt entsprechende Gegensätze aus. New York als Sozialisationsspot versus New York als mediale Erfahrung und Echo der Hypertrophie mit all den larger-than-life- Jingles.

Didion zeigt sich den Marken des weißen Mittelstandes komplett verhaftet. Sie entwirft ihr Existenzkleid in einer New Yorker Ausgabe. Sie hängt sich fünfzig Meter gelbe Theaterseide vor die Fenster. Die theatralische Wirkung bleibt aus.

Schließlich erkennt Didion, dass die somnambule Flüchtigkeit und der halluzinatorische Generaleffekt typischer New Yorker Erscheinungen für sie ein kolossales Trugbild ergaben. In Wahrheit zählte alles: „Jede Ausflucht, jedes Zögern, jede Dummheit, jedes Wort.“

Aus der Ankündigung

Gefeiert, ikonisch und unverzichtbar - „Slouching Towards Bethlehem“ gilt als Wendepunkt der amerikanischen Literatur. Joan Didions erste Essaysammlung ist ein unverzichtbares Porträt Amerikas in den Sechzigerjahren. Didion fängt die Orientierungslosigkeit eines Landes ein, das sich durch den sozialen Wandel selbst zerreißt. Ihre Essays beschreiben mehr als nur die mörderische Hausfrau, Pearl Harbor, Hippies oder ihren Heimatstaat Kalifornien; sie bieten eine umfassendere Vision von Amerika, die sowohl erschreckend als auch zärtlich, bedrohlich und einzigartig ist.

»Eine reiche Darbietung der besten Prosa, die in diesem Land geschrieben wurde.« The New York Times Book Review

Zur Autorin

Joan Didion, geboren 1934 in Sacramento, Kalifornien, arbeitete als Journalistin für verschiedene amerikanische Zeitungen und war u. a. Mitherausgeberin der Vogue. Sie gilt als eine der wichtigsten Stimmen der amerikanischen Literatur, die mit ihren fünf Romanen und zahlreichen Essaybänden das intellektuelle Leben der USA im 20. Jahrhundert entscheidend prägte. Joan Didion verstarb im Dezember 2021.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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