Phantome der Macht

#TexasText/Jamal Tuschick Peter Sloterdijk, „Wer noch kein Grau gedacht hat: Eine Farbenlehre“ - Der Autor variiert ein Wort von Cézanne: „Solange man nicht ein Grau gemalt hat, ist man kein Maler - Solange man das Grau nicht gedacht hat, ist man kein Philosoph.“

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„Faschismus war die Enttäuschungsform des Bolschewismus, Lenin war Mussolinis Idol, der Duce war Lenins abtrünnige Hoffnung. Familienähnlichkeit verpflichtet.“

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Peter Sloterdijk variiert ein Wort von Paul Cézanne: „Solange man nicht ein Grau gemalt hat, ist man kein Maler - Solange man das Grau nicht gedacht hat, ist man kein Philosoph.“ Sloterdijk addiert „verhangene Novembertage, Elefantenhäute, Mäusefelle, steife Packpapiere, fahle Cashmere-Eleganz“, melierte Public Convenience Floors und Goethes aschfahle Miene kurz vor seinem Tod.

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„So gut wie überall (taucht) die Figur des unentbehrlichen Unsichtbaren auf, der den exponierten Größen mit leisen Plänen, Suggestionen, Gefälligkeiten, gelegentlich auch Krediten zur Hilfe (kommt).“

„Graue Eminenzen, dunkle Existenzen“

Sloterdijk verweist auf einen Titel von Hansjakob Stehle: Graue Eminenzen, dunkle Existenzen. Geheimgeschichten aus vatikanischen und anderen Hinterhöfen. Der Grauste aller grauen Herrscherflüsterer könnte Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord (1754 - 1838) gewesen sein. Sloterdijk nennt den personifizierten Dreh- und Angelpunkt einen „Diener vieler Herren“ im spätabsolutistischen Frankreich. „Zugleich (war Périgord) der diskrete Herr seiner Vorgesetzten“.

Peter Sloterdijk, „Wer noch kein Grau gedacht hat: Eine Farbenlehre“, Suhrkamp, 28,-

Antike Kombinationen von Loyalität und Farbe findet man in post-augusteischen Gesellschaftsspielen in Rom und Konstantinopel. Zur herrschenden Klasse zählen auch jene Impresarios, die das Massenvergnügen an Wagenrennen garantieren. Zwei Parteien unterscheiden sich in ihren Farben. In der Spätantike treten nur noch die Grünen und die Blauen an. Sie sorgen für die spätantike Show, während der Kaiser sich im Zirkus dem Volk präsentiert. Die Ohnmacht akklamiert. Das ist ihr Part. Sie gibt ihre Zustimmung nicht ganz ohne Autorität. Der Volkswille legitimiert die absolute Herrschaft in einem absurden Prozess. Trotzdem verzichtet kein Herrscher auf das Mandat der Unbefugten, deren gelenkte Zustimmung in nicht kodifizierter Weise zum Staatswesen gehört.

Ausgedehnte Halbhölle - Dantes beispiellose Konstruktion des Purgatorio

In der Göttlichen Komödie propagiert Dante „eine Jenseitsreise, die durch eine dritte Gegend führt. Hatten schon antike Autoren von Unterweltbesuchen und Himmelsreisen ausführliche Berichte geliefert, präsentiert Dante sich als der erste, der eine jenseitige Mittelwelt, eine ausgedehnte Halbhölle mit Sicht auf bessere Tage in der Ewigkeit durchquerte. Deren mittlere Lage zwischen dem Höllenschwarz und dem Paradiesweiß ergibt sich, indem sie von der Hölle die Torturen, vom Himmel das sichere Vorgefühl der Befreiung ausleiht“. Die theologische Sensation war der dritte Ort, purgatorium (zu Deutsch ‚Fegefeuer‘) genannt. Dazu bald mehr.

Von der Vergrauung der Welt und ihrer Begriffe

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Nachrichten aus Grauzonen

„Kein Bürgerkriege-Atlas, kein Lexikon der Defizite vermag das Grauzonen-Reich zu umspannen, keines der üblichen Weltbilder fängt es ein. Historikern der Imperien ist die Neigung gemeinsam, die Existenz und Ausdehnung des Grauzonenhaften zu übersehen … kein Auswärtiges Amt weiß wirklich, was da draußen geschieht, wo die Irregularitäten unter sich sind. Über einhundert staatsartige Halbanarchien unter Flaggen brüten auf dem Planeten in sich selbst, in der Regel von der Mitwelt ignoriert, im Halbschatten grellerer Konflikte, mittelfristig fixiert im Wiegeschritt steigender und fallender Korruptionswerte. Der gutwilligste Kosmopolit ist irgendwann müde genug, den Mantel des benign neglect über Gegenden zu werfen, von deren Verhältnissen zuviel zu wissen bloß unglückliches Bewusstsein nach sich zöge, sprich mentalen Stress ohne Handlungsoptionen.“

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„Niemand kann wissen, wie (Leute) den Schrecken ertrügen, wenn eine ungewohnte Globographie bewiese, das Grauzonengeflecht stelle das umfangreichste räumliche Gebilde der Erde dar: das Land aller Länder, auf keinem Globus dargestellt, durch keine Karte ausgebreitet, durch keine offiziellen Verkehrswege erschlossen, von keiner United Greyzones Organization mit dem Schein einer Bemühung um Regulierung überzaubert, die Pangaea des regulär Irregulären. Der virtuelle Grauzonenglobus zeigt nicht die Länder und Meere, wie man sie aus den gängigen Atlanten und den neuen Connectographien kennt, politisch, geographisch, klimatographisch. Er umreißt Kontinente aus Überschneidungen von partiellen Energien, von denen keine stark genug ist, zu siegen, und keine resigniert genug, um die Waffen zu strecken. Er skizziert Regionen ohne Vormacht, ohne Gericht und ohne Entschädigung, er präsentiert Zwischenwelten aus Infiltrationen, Unterwanderungen und Verklumpungen, er folgt den Strömen aus strategisch gelenkten Ressentiments und gefälschten Nachrichten.“

Von der Vergrauung der Welt und ihrer Begriffe

Nach Peter Sloterdijk zog das Grau als politische Farbe mit dem Kapuziner François-Joseph Le Clerc du Tremblay de Maffliers in das europäische Staatsgeschäft ein. Ohne Absicht begründete Père Joseph (1577 - 1638) eine Dynastie der grauen Eminenzen. Er arbeitete dem weit berühmteren Kardinal Richelieu zu. Gleichzeitig war er, in Umkehrung der Hierarchie, Beichtvater seines Vorgesetzten; eines der potentesten Machiavellisten nicht allein seiner Epoche.

Richelieu amtierte von 1624 bis zu seinem Tod als Premierminister Ludwigs XIII. In den „strategische Konsultationen“ flüsterte der Kapuziner „dem Minister Taten ein, von denen er ihn als confesseur nach symbolischer Buße freizusprechen hatte“.

Für sich wollte Père Joseph nichts, um alles für Frankreich geben zu können. Ihm entging, so kolportiert es Sloterdijk, die verdeckte Hybris der eigenen Manöver. Er begriff nicht, dass „vikariöser Ehrgeiz ein ebensolches Hindernis der Vereinigung (mit Gott) ist wie persönlicher Ehrgeiz“.

Aus dem Kapuzinergrau wurde das „Funktionsgrau“ der Bürokratie. Das beschreibt einen Weg, den das Grau des Amtes als soziales Darlehen nahm. Außerdem könnte sich, so Sloterdijk, im „Grundwort bureau … eine farbliche Anspielung (verbergen), falls es zutrifft, dass der ursprünglichste Schreibtisch ein von einer bure, das heißt einem groben, dunkelgrauen oder graubraunen Woll- oder Leinenstoff, bedecktes Holzgestell war. Der Stoff gab seinen Namen an das Möbelstück weiter“.

Aus der Ankündigung

Solange man kein Grau gemalt habe, sagte Paul Cézanne einmal, sei man kein Maler. Wenn Peter Sloterdijk diesen Satz auf die Philosophie überträgt, mag dies als nicht erläutertes Behauptungsereignis wie eine maßlose Provokation klingen. Warum sollten Philosophen eine einzelne Farbe denken, anstatt sich mit Ethik, Metaphysik oder Logik zu beschäftigen? Doch schon eine erste historische Grabung verschafft der Intuition Plausibilität: Welche Farbe haben die Schatten in Platons Höhlengleichnis? Malt die Philosophie laut Hegel nicht stets Grisaillen? Und impliziert Heideggers In-der-Welt-sein nicht den Aufenthalt in einem diffusen Grau?

Peter Sloterdijk folgt dem grauen Faden durch die Philosophie-, Kunst- und Mentalitätsgeschichte. Er befasst sich mit der Rotvergrauung der Deutschen Demokratischen Republik, mit Graustufenphotographie und lebensfeindlichen Landschaften in der Literatur. Indem er das Grau als Metapher, als Stimmungsindikator und als Anzeige politisch-moralischer Zweideutigkeit erkundet, liefert er eine Vielzahl bestechender Belege für die titelgebende These.

Zum Autor

Peter Sloterdijk wurde am 26. Juni 1947 als Sohn einer Deutschen und eines Niederländers geboren. Von 1968 bis 1974 studierte er in München und an der Universität Hamburg Philosophie, Geschichte und Germanistik. 1971 erstellte Sloterdijk seine Magisterarbeit mit dem Titel Strukturalismus als poetische Hermeneutik. In den Jahren 1972/73 folgten ein Essay über Michel Foucaults strukturale Theorie der Geschichte sowie eine Studie mit dem Titel Die Ökonomie der Sprachspiele. Zur Kritik der linguistischen Gegenstandskonstitution. Im Jahre 1976 wurde Peter Sloterdijk von Professor Klaus Briegleb zum Thema Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte der Autobiographie der Weimarer Republik 1918–1933 promoviert. Zwischen 1978 und 1980 hielt sich Sloterdijk im Ashram von Bhagwan Shree Rajneesh (später Osho) im indischen Pune auf. Seit den 1980er Jahren arbeitet Sloterdijk als freier Schriftsteller. Das 1983 im Suhrkamp Verlag publizierte Buch Kritik der zynischen Vernunft zählt zu den meistverkauften philosophischen Büchern des 20. Jahrhunderts. 1987 legte er seinen ersten Roman Der Zauberbaum vor. Sloterdijk ist emeritierter Professor für Philosophie und Ästhetik der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und war in Nachfolge von Heinrich Klotz von 2001 bis 2015 deren Rektor.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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