Rabiate Bittstellerin

#TexasText/Jamal Tuschick Danielle McLaughlin, „Die Kunst des Fallens“ - Eines Tages erweitert eine bedürftig wirkende Frau Nessa McCormacks Geltungskreis. Melanie Doerr erscheint der Kuratorin wie eine rabiate Bittstellerin.

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So könnte es gewesen sein

Anfang der 1970er Jahre verdingt sich die Kroatin Melanie Petrovic alias Doerr als Putzfrau und Köchin in einer Künstler:innenkolonie auf der irischen Halbinsel Inishowen. Die Dienstleistungen dienen der Tarnung. Ohne Vorbildung möchte Melanie in eine Kunstproduktion einsteigen. Sie nähert sich dem Bildhauer Robert Locke, einem in Irland heimisch gewordenen Schotten. Sie entfacht das Feuer der Kollaboration. Der frisch Verheiratete lässt sich hinreißen. Er initiiert Melanie. Sie inspiriert ihn als Muse, Modell und Ko-Urheberin wenigstens einer Skulptur. Später wird die Alabastergipsplastik mit einer Werklegende ausgestattet, die eine andere Geschichte erzählt. In beiden Versionen liefert ein Foto, das die schwangere Gattin Eleanor vor dem Hotel Negresco in Nizza zeigt, die Vorlage.

Während ein Fuß detailreich ausgearbeitet ist, erscheint der Kopf lediglich als Block. Folglich lässt sich kein physiognomischer Beweis erbringen. Ich komme auf den Punkt zurück.

Verkündungsvorrecht

Die Figur wurde bereits als Fruchtbarkeitssymbol und pseudoarchaischer Anbetungsgegenstand missverstanden. Eine Weile stand sie in einem Kuhstall. Nun bildet sie das Herzstück der Kanonisierung des Künstlers. Die Expertise liefert Nessa McCormack, eine Kunsthistorikerin aus Cork. Sie gilt als beste Kennerin von Robert Lockes Œuvre. Mit absolutem Deutungshoheitsanspruch verbreitet Nessa eine ehefreundliche, die Witwe nobilitierende Entstehungsgeschichte.

Danielle McLaughlin, „Die Kunst des Fallens“, Roman, aus dem Englischen von Silvia Morawetz, Luchterhand, 363 Seiten, 22,-

Eines Tages erweitert eine bedürftig wirkende Frau Nessas Geltungskreis. Melanie Doerr erscheint der Kuratorin wie eine rabiate Bittstellerin. Sie erhebt Anspruch nicht allein auf die Skulptur, sondern auch auf ein Verkündungsvorrecht. In den ersten drei Durchgängen kann sie gegen die Hausmacht von Cork nicht punkten. Sie läuft leer mit ihrer Geschichte. Dann kreuzt sie mit Maquetten nach Art grotesker Sheela-na-Gigs bei Nessa zuhause auf. Die Koryphäe erkennt (für Locke) typische Vorarbeiten.

„Der Schwung der Hüften, der Bogen, mit dem sich das Schlüsselbein aus dem Stein erhob, waren … sein Fetisch.“

Nessa würde von Melanie so viel lieber Lügen als die Wahrheit hören. Ihr ist die Frau zuwider. Allerdings beschleicht Melanie im Gegenlicht neuer Informationen eine Ahnung von Eleanor Lockes Deutungspolitik. Melanie könnte Fälschungsabsichten auf den Leim gekrochen sein.

*

Sie schläft mit ihrem Mann Philip und imaginiert dabei Robert. Sie konkurriert mit Eleanor und Melanie sowie mit Roberts Tochter um Anteile an der Aura eines Toten.

Loretta Locke behauptet zuerst, Melanie nie begegnet zu sein. Sie korrigiert sich, während die Perspektive der Lockes für Nessa mysteriös zu werden beginnt. In der Urfassung eines Interviews, dessen publizierte Fassung Nessa selbstverständlich geläufig ist, entdeckt die Kuratorin den ersten belastbaren Hinweis auf eine Beziehung zwischen Robert und Melanie. Im nächsten Augenblick geraten die Lockes in die Defensive.

In einer packenden Szene, die man in einem anderen Milieu als Showdown bezeichnen würde, entblößt Melanie im Haus der Lockes einen Fuß.

„Doerrs Fuß war an einer Stelle verwachsen, die beiden kleinsten Zehen waren mit einer Schwimmhaut verbunden.“

Die Skulptur zeigt die Besonderheit. Kritiker erfanden ihr einen Zusammenhang mit „Huxleys Amphibien“. Robert unterließ es, zu widersprechen. Melanie erklärt Nessa und Loretta, der Arrivierte habe zu der Gipsfigur nicht mehr beigetragen als die Nachbildung ihres Fußes.

Erst jetzt erfährt Nessa, dass das Werk unter den Augen von Loretta Gestalt annahm.

Aus der Ankündigung

Eine Frau in der Krise – die irische Autorin erzählt vom ganz normalen Leben, von den kleinen Dramen, die große Wirkung haben, von verletzten Gefühlen, versteckten Lügen, unerfüllten Sehnsüchten. Und wie leicht ein Leben aus den Fugen geraten kann, auch wenn man glaubt, alles ganz gut unter Kontrolle zu haben. Nessa McCormack will nach einer Affäre ihres Mannes ihre Ehe retten, ihre Tochter ist im kompliziertesten Teenageralter, und sie steht am Höhepunkt ihrer Karriere: Sie kuratiert eine Ausstellung über den kürzlich verstorbenen Robert Locke, einen Bildhauer, den sie noch persönlich kannte und verehrte. Doch plötzlich taucht eine Frau auf, die hartnäckig behauptet, die wahre Schöpferin von Robert Lockes berühmtester Skulptur zu sein. Und dann droht auch noch eine längst verdrängte Lüge aus Nessas Vergangenheit ans Licht zu kommen …

Zur Autorin

Danielle McLaughlin hat als Rechtsanwältin praktiziert, bevor sie mit 40 Jahren zu schreiben begann. Ihre Geschichten wurden in The New Yorker, The Irish Times, The Stinging Fly und verschiedenen Anthologien veröffentlicht, sie gewann u.a. die William Trevor/Elizabeth Bowen International Short Story Competition und den Willesden Herald International Short Story Prize. Ihr Erzählungsband »Dinosaurier auf anderen Planeten« kam 2015 auf die Shortlist der Irish Book Awards Newcomer of the Year und wurde 2019 mit einem der höchstdotierten literarischen Preise weltweit ausgezeichnet, dem Windham-Campbell Prize. »Die Kunst des Fallens« kam 2022 auf die Shortlist des Dublin Literary Award. Danielle McLaughlin lebt im County Cork, Irland.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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