Serhii Plokhy - Putins Pan-Russisches Projekt

#TexasText/Jamal Tuschick Serhii Plokhy, „Der Angriff. Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt“ - Auch der ehemalige Bundesrichter und SPIEGEL-Kolumnist Thomas Fischer deutet das einschlägige Verhältnis als „Konflikt der Ukraine mit Russland“

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Putins Pan-Russisches Projekt

„Wir kämpfen mit weniger Ressourcen als der Feind. Gleichzeitig gelingt es uns, seine Pläne zu zerstören.“ Oleksandr Syrskyj, zitiert nach Benjamin Reuter im Tagesspiegel vom 15.05. 2023, Quelle

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Die heutigen Kämpfe im Osten der Ukraine gleichen nicht einem Krieg des 21. Jahrhunderts, was impliziert, dass es Komplexität, moderne Taktiken, unkonventionelle Strategien, Versuche, unnötige Opfer zu vermeiden, gibt. Nein, es ist die Brussilow-Offensive aus den Tiefen des Ersten Weltkriegs wiederaufgetaucht, nur hat man sie auf die (Größe) des Donbass reduziert. Sergei Gerasimow in der NZZ vom 14.05. 2023, Quelle

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„Angeblich soll (Sergei) Lawrow auf die Frage, wer Putins Berater sei, geantwortet haben: Peter der Große, Katharina die Große und Alexander II.“ Serhii Plokhy

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„Die heutige Ukraine wurde vollständig von Russland erschaffen.“ Putin, zitiert nach Serhii Plokhy

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„Bis zum Schluss glaubten wir nicht, dass der Feind mit einer großräumigen Operation an allen Fronten und über alle Linien hinweg eindringen würde.“ General Dmytro Krassylnykow, Held der Ukraine, zitiert nach Serhii Plokhy

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„Die acht Jahre der hybriden Kriegsführung Russlands gegen die Ukraine … verwandelten die Ukraine in ein anderes Land, als sie es 2014 gewesen war, und veränderten auch ihre Gesellschaft.“ Serhii Plokhy

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„Das alte Sprichwort, das Generäle einen neuen Krieg so planen, wie sie den vorherigen geführt haben, hat sich dieses Jahr (2022) bewahrheitet. Die russischen Angreifer in der Ukraine erwarteten, das Land vorzufinden, das sie 2014 angegriffen hatten, aber sie trafen auf ein ganz anderes.“ Serhii Plokhy

Fatale Suggestion

Der Harvard-Professor Serhii Plokhy zählt zu den Supererklärer:innen der historischen und der gegenwärtigen Voraussetzungen jener gegen die Ukraine gerichteten, russischen Aggression, die manche Autor:innen als „Konflikt zwischen der Ukraine und Russland“ beschreiben. Auch der ehemalige Bundesrichter und SPIEGEL-Kolumnist Thomas Fischer deutet das einschlägige Verhältnis als „Konflikt der Ukraine mit Russland“. Siehe „Experten der Betroffenheit. Journalismus soll nicht Bekenntnis sein, Wahrhaftigkeit nicht Identifikation mit einer Seite: Diese Regel klingt zunehmend exotisch. In Bezug auf den Ukrainekrieg hat sie offenbar ausgedient.“ Quelle

Serhii Plokhy, „Der Angriff. Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt“, übersetzt von Bernhard Jendricke und Peter Robert, Hoffmann und Campe, 26,-

In einer Replik in der FAZ vom 04.05. 2023, siehe „Demagogie beim SPIEGEL: Die Ukraine ist keine Krankheit“, Quelle, reagiert der in Sewastopol geborene, in Berlin lebende Journalist Nikolai Klimeniouk auf die implizite Verschleierung eines menschenfeindlichen Gefälles.

Fischer schreibt:

„Gibt es irgendeinen vor dem Wahrheitsgebot bestehenden Grund für die Annahme, dass über den Konflikt der Ukraine mit Russland ausschließlich Ukrainer und amtlich beglaubigte Russenhasser berichten sollten, um die Wahrheit zu enthüllen?“

Klimeniouk entgegnet:

„Die Verwendung des Worts „Konflikt“ anstelle von „Angriffskrieg“ illus­triert … das „Downplaying“, eine Diskussionstaktik, die darauf abzielt, die Schwere eines Problems herunterzuspielen und die Akzeptanz für seine negativen Auswirkungen zu erhöhen.“

Zweifellos tendieren alle Autor:innen, die den in Rede stehenden Krieg zum ‚Konflikt‘ erklären, zu einer Relativierung der Gewaltbereitschaft auf der Täterseite. Sie unterschlagen den gravierenden Unterschied zwischen Angriff und Verteidigung. Klimeniouk spricht von der fatalen Suggestion eines „Äquivalenzverhältnis“. „Dem Opfer (werde) eine Mitschuld am Ausbruch der Gewalt gegeben (‚victim blaming‘)“.

Barbarisches Alter Ego

In einer retrospektiven Betrachtung schickt Plokhy seiner Analyse des Status Quo einen historischen Abriss voraus. Siehe

Serhii Plokhy, „Das Tor Europas: Die Geschichte der Ukraine“, aus dem Englischen von Anselm Bühling, Bernhard Jendricke, Stephan Kleiner, Stephan Pauli und Thomas Wollermann, Hoffmann und Campe, 30,-

Plokhy beginnt mit Herodot. Der Geschichtsschreiber erfasste „das Gebiet der heutigen Ukraine im Wesentlichen (als) eine Grenzregion, wo die griechische Zivilisation auf ihr barbarisches Alter Ego traf“. Allgemein hielten die Griechen das Land nördlich des Schwarzen Meeres für einen „Spielplatz der Götter“.

Spielplatz der Götter

Die Ukraine als Hauptschauplatz eines weitgehend vergessenen Krieges: als Diarist und sowjetisch-akkreditierter Berichterstatter schildert Isaak Babel 1920 eine geschundene und verschlissene Bevölkerung in einem zugrunde gerichteten Land. Das hätte ich im Januar 2022 noch anders gelesen.

Im Juni 1920 startet Isaak Babel (1894 - 1940) seine Odyssee durch die zerschlagene Ukraine. Als sowjetischer Berichterstatter im Polnisch-Sowjetischen Krieg (1919 - 1921) reist er zunächst von Odessa (Babels Geburtsstadt) nach Žitomir (Originalschreibweise). Gebräuchlich ist Schytomyr.

Russische Restauration, polnischer Imperialismus, Klassenkampf der Bolschewiki - Zur politischen Großwetterlage von 1920

In den Stadien der nie offiziell erklärten Auseinandersetzung werden einzelne Ergebnisse des Ersten Weltkriegs konsolidiert, andere aufgehoben. Die mit (imperialen Erwartungen verknüpften) polnischen Raumgewinne unter Marschall Józef Piłsudski sind flüchtig.

Für Rzeczpospolita stirbt man seit Jahrhunderten.

Die sowjetische Idee von der permanenten Revolution übersteht den Elchtest der Realität so wenig wie der zaristische Trotz der Weißgardisten unter Anton Iwanowitsch Denikin.

Der Anfang vom Ende

Siebzig Jahre später löst sich die Ukraine mit Aplomb aus der Sowjetunion. Am 1. Dezember 1991 erfolgt die Sezessionserklärung. Damit macht die Ukraine den Anfang vom Ende einer autoritär geführten Staatengemeinschaft. Diese Dynamik erzwingt Gorbatschows Rücktritt. Der Perestroika-Papst demissioniert „als Präsident eines Landes, das es im juristischen Sinn schon nicht mehr (gibt).“

Bereits im Winter 1991, Gorbatschow saß noch im Kreml, fing er an, seine Memoiren zu schreiben. Er machte sich Notizen wie ein Journalist, der einen Politiker beobachtet.

„Da wussten wir (Höflinge): es ist aus.“ Aus Alexander Kluge/Gerhard Richter, „Dezember“

Das Unabhängigkeitsbegehren und die zügig vollzogene Preisgabe der Zugehörigkeit der Ukraine zur Sowjetunion ergeben sich in der Konsequenz eines Referendums.

„Die Wahlbeteiligung lag bei über 84 Prozent … und mehr als 92 Prozent“ votierten gegen den Verbleib in der Sowjetunion.

Jelzin, der Gorbatschow nachfolgt, wähnt sich zunächst noch in einem unantastbaren Bund mit der Ukraine. Schließlich besteht die ukrainische Bevölkerung zu dreißig Prozent aus Russ:innen. Die 1988 erschossene Politikerin Galina Wassiljewna Starowoitowa klärt den Irrenden auf. Im Folgenden erkennt der russische Präsident die politische Souveränität des „Brudervolkes“ weitgehend an. Allerdings entbrennt sofort ein Streit um die Krim, die Jelzin für die Russische Föderation beansprucht. Durch die Hintertür stellt der russische Anspruch die territoriale Integrität der Ukraine gleich wieder in Frage.

Über Nacht avanciert die unabhängige Ukraine zur drittgrößten Atommacht der Welt mit beinah „1900 nuklearen Sprengköpfen und etwa 2500 taktischen Atomwaffen“. Zwar haben die ukrainischen Streitkräfte keine „operative Kontrolle über die Waffen“, die Abschusscodes befinden sich in Moskau, trotzdem will die Ukraine das Arsenal nicht aus der Hand geben.

Morgen mehr.

Aus der Ankündigung

Welche Folgen hat Russlands Angriff in den kommenden Jahrzehnten für den Westen und die Welt? Dieses hochaktuelle, dringende Buch gibt Antworten auf entscheidende Fragen unserer Zeit.

In seinem neuen Buch gibt der renommierte Historiker und Ost-Europa-Experte Serhii Plokhy Antworten darauf, wie Russlands Krieg die Weltordnung der nächsten Jahrzehnte verändern wird. Er erzählt von einem ukrainischen Volk, das als Frontstaat im jetzt anbrechenden neuen Kalten Krieg endlich seine Identität gefunden hat. Und er skizziert eine globale Außenpolitik, die sich wieder weg von ökonomischer Kooperation, hin zu Dominanz, Vasallenstaaten und militärischer Stärke entwickelt – mit gravierenden Folgen für uns alle. Nur wenn der Westen sich dieser Realität stellt, wird er in Zukunft seine Freiheit behaupten können.

Zum Autor

Serhii Plokhy ist Professor für ukrainische Geschichte in Harvard und Direktor des ukrainischen Forschungsinstituts der Universität. Plokhy ist Autor zahlreicher Bücher zur osteuropäischen Geschichte, darunter das preisgekrönte Werk "The Last Empire. The Final Days of the Soviet Union", für das er den Lionel-Gelber-Preis erhielt, und "Chernobyl. History of a Tragedy", das mit dem Baillie-Gifford-Preis ausgezeichnet wurde.
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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

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