Serhii Plokhy - Sprungbrett der Geschichte

#TexasText/Jamal Tuschick Putin klassifiziert die Ukraine als „Barriere zwischen Europa und Russland, als ein Sprungbrett gegen Russland.“ Serhii Plokhy

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Sehen Sie ferner https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4538

und

https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4537

und

https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4536

Sprungbrett der Geschichte

Putin klassifiziert die Ukraine als „Barriere zwischen Europa und Russland, als ein Sprungbrett gegen Russland.“ Zitiert nach Serhii Plokhy

*

„Die heutige Ukraine wurde vollständig von Russland erschaffen.“ Putin, zitiert nach Serhii Plokhy

*

„Klar ist: Wir als (russische) Opposition sind abhängig von dem Sieg der Ukraine. Wir kämpfen nicht um Wählerstimmen, wir kämpfen für den Sieg. Und echte russische Patrioten müssen der Ukraine dabei helfen. Das ist die allererste Voraussetzung für jede Art von Veränderung in Russland. Garri Kasparow in einem Interview, gesehen am 07.05. 2023 auf T-Online, Quelle

*

„Und überall Felder, Sonne, Leichen.“ Eine ukrainische Impression aus dem Jahr 1920 von Isaak Babel, „Wandernde Sterne. Dramen, Drehbücher, Selbstzeugnisse“

Neurussland

„Mit der Annexion der Krim wurden Imperialismus und Nationalismus zu zentralen Elementen und Triebkräften der russischen Außenpolitik.“

Putin deutet den historisch feststehenden Begriff „Neurussland“ um. Im 18. Jahrhundert bezeichnete das - von Katharina II. deklarierte - Gouvernement Neurussland die schwach besiedelte Gegend nördlich des Schwarzen Meeres. Das Territorium bot sich zaristischen Kolonisierungskampagnen an, die auch einer Befestigung der Grenze zum Osmanischen Reich dienten. In einer ahistorischen Ableitung nutzt Putin „Neurussland“ als Kampfbegriff.

Serhii Plokhy, „Der Angriff. Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt“, übersetzt von Bernhard Jendricke und Peter Robert, Hoffmann und Campe, 26,-

Die geografischen Dimensionen definiert er freihändig. Sie schließen die Oblaste Charkiw, Luhansk, Donezk, Cherson, Mykolajiw und Odesa (ukrainische Schreibweise) ein. Die Liste erfasst jene Gebiete, die - nach einer Darstellung von Alexander Solschenizyn - der ukrainischen Regierung in den 1920er Jahren übertragen wurden. Damals waren die Ukraine und Belarus Schauplätze kriegerischer Auseinandersetzungen im Zuge sowjetischer Aggression nicht zuletzt. Unter Marschall Józef Piłsudski konnten polnische Truppen Wilna und Minsk erobern. Sie schickten sich an, Lemberg und Chełm, kurz ganz Galizien, einzunehmen.

Isaak Babel war als sowjetischer Kriegsberichterstatter am Start. Nebenbei badete er im Teteriv (Originalschreibweise) und beobachtete idyllische Uferszenen mit Wäscherinnen.

Schytomyr nannte er eine „verstummte Stadt“. Die „alte Architektur“ der Synagogen überwältigte den Betrachter.

In den 1930er Jahren geriet Isaak Babel (1894 - 1940) in das Mahlwerk der stalinistischen Säuberungen. Seiner Hinrichtung voran gingen geheimpolizeiliche Konfiszierungen. Sie mündeten in der Vernichtung von Aufzeichnungen im Spektrum zwischen erzählender Prosa und Tagebucheintragungen. Durch die Maschen der Barbarei fielen Konvolute, die sich nicht im Besitz des Autors befanden. So erhielt sich ein Tagebuchfragment aus dem Jahr 1920. Übrigens wurde es in Kiew gesichert.

Zitate aus: Isaak Babel, „Wandernde Sterne. Dramen, Drehbücher, Selbstzeugnisse“, übersetzt von Bettina Kaibach, Peter Urban, Hanser, 35,-

In einem aus den Beständen des weißrussischen Generals Denikin erbeuteten Thornycroft fuhr Babel nach Novograd. Er kam kaum je aus seinen Klamotten. Er registrierte ruchloses Requirieren, das Aufstöbern versteckter Lebensmittel, und den amtlichen Hohn der Beschlagnahmungen. Ein Bauer wedelte mit einem Haufen wertloser Quittungen, die er zu seiner pompös-zynischen Herabsetzung entgegennehmen musste.

Babel unterschied zwischen halbstädtisch-sauberen tschechischen Dörfern und weniger ordentlichen Einheiten. Mich erinnert das an eine zeitlich in den Rahmen passende Schilderung von Solschenizyn.

Den Einmarsch zaristischer Infanterie in ein deutsches Dorf während des Ersten Weltkriegs beschreibt Solschenizyn als Triumphzug der Verwunderung. Man findet ein Fahrrad, und ein ganzes Bataillon staunt „das Wunderding“ an. Gemauerte Ställe und betonierte Brunnen erregen die Gemüter uniformierter Bauern. Nichts fliegt herum. Alles ist in Ordnung. Es gibt sogar elektrische Straßenbeleuchtung.

„Wie bringen die Deutschen es fertig, ihre Wirtschaft so zu besorgen, dass keine Spuren von Arbeit zu sehen sind?“

Die fast tödlich Ermatteten haben Polen zu Fuß durchquert, „dort ließ man die Zügel schleifen, aber hinter der deutschen Grenze war alles wie verwandelt“.

Die Marschierer pendeln zwischen Ehrfurcht und Grauen durch Ostpreußen.

*

Einen bolschewistisch gewendeten Ortsvorsteher bezeichnete Babel als „gewesenen Menschen“ und als „Aristokratenratte“.

Babel bemerkte die „unglaubliche Müdigkeit der Einheiten, darüber, dass die heftigen Attacken unserer Brigaden nicht die früheren Ergebnisse zeitigen, ununterbrochene Kämpfe seit …“

Er begegnete Semyon Timoshenko. Der Divisionskommandeur aus der lange bildbestimmenden, von Stalin nobilitierten Kavallerie-Clique um Semjon Budjonny und Kliment Jefremowitsch Woroschilow, zählte zu jenen, die sowohl mit als auch gegen Nestor Machno kämpften. Der ukrainische Anarchist und seine Schwarze Armee aka Machnowschtschina wechselten ihre Verbündeten so wie der König von Navarra seine Religion wählte.

Timošenko (Originalschreibweise) „ist … eine farbige Figur. Ein Koloss, rote halblederne Hosen, rote Mütze, gut gebaut“.

Budjonny war Stalins Pferdeflüsterer

Der unglücklich agierende Befehlshaber der kommunistischen Kavallerie Budjonny versemmelte seinen historischen Augenblick. Er sollte auch im Zweiten Weltkrieg nicht zu den Kriegern mit Fortune aufrücken. Trotzdem fiel er nie in Ungnade. Stalin liebte den Kosaken.

Aus dem Spiegel vom 28.04. 1969:

„In Moskau aber erwartete der Diktator das Symbol des Sieges - so Stalin über Schukow. Ob er eigentlich das Reiten verlernt habe, fragte ihn Stalin, als sich Schukow bei ihm am 19. Juni meldete, Schukow verneinte. Stalin: Gut, Sie werden die Siegesparade abnehmen. Ich rate ihnen, nehmen Sie den Schimmel, den Ihnen Budjonny zeigen wird.

Schukow soll sich zunächst gesträubt haben, aber drei Minuten vor zehn Uhr am 24. Juni 1945 ritt er auf dem Roten Platz unter den Klängen von Glinkas Gloria-Marsch der Feier des Sieges entgegen - seines Sieges.“

Plokhy korrigiert Putin und Solschenizyn. Die Eingliederung der neurussischen Gebiete in die ukrainische Sowjetrepublik verdankte sich der Tatsache, dass da überwiegend Ukrainer:innen lebten.

Dazu bald mehr.

Aus der Ankündigung

Welche Folgen hat Russlands Angriff in den kommenden Jahrzehnten für den Westen und die Welt? Dieses hochaktuelle, dringende Buch gibt Antworten auf entscheidende Fragen unserer Zeit.

In seinem neuen Buch gibt der renommierte Historiker und Ost-Europa-Experte Serhii Plokhy Antworten darauf, wie Russlands Krieg die Weltordnung der nächsten Jahrzehnte verändern wird. Er erzählt von einem ukrainischen Volk, das als Frontstaat im jetzt anbrechenden neuen Kalten Krieg endlich seine Identität gefunden hat. Und er skizziert eine globale Außenpolitik, die sich wieder weg von ökonomischer Kooperation, hin zu Dominanz, Vasallenstaaten und militärischer Stärke entwickelt – mit gravierenden Folgen für uns alle. Nur wenn der Westen sich dieser Realität stellt, wird er in Zukunft seine Freiheit behaupten können.

Zum Autor

Serhii Plokhy ist Professor für ukrainische Geschichte in Harvard und Direktor des ukrainischen Forschungsinstituts der Universität. Plokhy ist Autor zahlreicher Bücher zur osteuropäischen Geschichte, darunter das preisgekrönte Werk "The Last Empire. The Final Days of the Soviet Union", für das er den Lionel-Gelber-Preis erhielt, und "Chernobyl. History of a Tragedy", das mit dem Baillie-Gifford-Preis ausgezeichnet wurde.
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden