Supernarrativ

#TexasText/Jamal Tuschick “If someone asked me what a human being ought to devote the maximum of his life to, I would answer: training. Train more than you sleep.” Ōyama Masutatsu

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Train more than you sleep

„Ich sehe ihn noch, mit seinem faltigen Kindergesicht, sinnlos zufrieden, später, als es zu Ende ging, erstarrend zu der mürrischen Grimasse eines abgeschminkten Spaßmachers, ihn, meinen Großvater, sächsischer Arbeiter, gestorben 1946, fünfundsiebzig Jahre alt, ungeduldig, an den Folgen der Geduld.“ Heiner Müller

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“If someone asked me what a human being ought to devote the maximum of his life to, I would answer: training. Train more than you sleep.” Ōyama Masutatsu

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„Konzentriere deine Energie und gehe sparsam mit deinen Kräften um. Halte deine Armee immer in Bewegung und entwerfe undurchschaubare Pläne.“ Sunzi

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„Nichts ist schädlicher für die Welt als eine Kampfkunst, die in der Selbstverteidigung nicht wirksam ist.“ Motobu Choki

Motobu lehrte Meotode - verheiratete Hände. Tode ist ein fundamentaler Karate-Begriff. Er impliziert einen Generaleinwand zumal gegen hohe Fußtechniken. Siehe Okinawa Tode. In ihrem Kern dreht sich Motobus Methode um die Gleichzeitigkeit von Angriff und Abwehr. Sie widerspricht dem Man Sao/Wu Sao-Konzept. Wir alle haben das Prinzip von der neugierigen und der schützenden Hand verinnerlicht. Der Guard sichert den Vorstoß.

Das ist Kinderkarate.

Während wir daran gewöhnt sind, Gegner:innen*kontrolle (Führhand) von Konterstrikes (Schlaghand) zu unterscheiden, wird in der Gleichzeitigkeit die annehmende zur angreifenden Hand.

Die Scheidung der Parade von der Retourkutsche geht auf falsche Adaptionen zurück. Wahre Kampfkunst kombiniert Vorwärtsspannung mit Gleichzeitigkeit in der Mühelosigkeit.

Die alten Meister:innen bezeichneten jede allein sichere Handlung als tote Hand.

Supernarrativ

Abwehr und Angriff bilden eine Einheit. Warum weiß das kaum einer in Maeve von Pechsteins Dōjō am Lokalbahnhof Wilhelmshöhe? Keine fünf Beitragszahler:innen* beherrschen Meotode. Coles in Japan aufgewachsene, von Kindesbeinen mit Karate vertraute Großtante betrieb ihre Karateschule in erster Linie als Nachbarschaftszentrum. Sie organisierte Ausstellungen und Wohltätigkeitsbasare und richtete Kindergeburtstage für Unterprivilegierte aus. Maeve unterschlug ihr Karatewissen zugunsten einer humanitären Sendung.

Der Großneffe lebt Karate im Geist von Tetsuji Murakami:

„Früher haben Karate Meister nichts anderes als Karate gemacht ... Jetzt muss ein Mann arbeiten, Geld für seinen Lebensunterhalt verdienen, fernsehen, eine Familie haben. Natürlich kann er nicht die gleichen Höhen erreichen ...“

Coles Angebote richten sich an die Leidenschaftlichen. Er trifft keine Auswahl unter den Schülerinnen*. Zunächst unterrichtet er alle, die ein härteres Training begrüßen. Die athletische Ausrichtung dämpft den billigsten Enthusiasmus. Am vorläufigen Ende rauft sich eine Mannschaft von zwanzig Unentwegten zusammen. Cole nährt ihren Stolz. Er gibt ihnen das Gefühl, einer Elite anzugehören. Seinen Führungsanspruch verschleiert er, indem er Amina, Anzu, Lien, Nanami und Puma zu Instruktorinnen macht.

Fortan ist kein direkter Einfluss erkennbar. Die Praktizierenden schwitzen in den Regimes mehr oder weniger einfühlsam agierender Gymnasiastinnen, die Karate als körperliche Angelegenheit begreifen. Was Kontraintuition ist, weiß (noch) keine. Auch weist nicht eine auch nur einen Wettkampferfolg vor.

In dieser Wüste formuliert Cole das große Ziel: Binnen fünf Jahren soll die Schule eine Weltmeisterin hervorbringen. Was er nicht sagt: Cole muss (im Käfig seines Ehrgeizes) die Befähigte vor allen anderen erkennen. Sie soll sich ihm mit Zeichen verraten. Cole sucht den Himmel seiner Sphäre nach dem Wetterleuchten der Prädestination ab.

Lien, Nanami und Puma drängen sich vor, aber Cole sieht einen Hoffnungsstreif am Horizont nur, wenn er den Schwestern Amina und Anzu zusieht. Amina erklärt mit jeder Bewegung, dass sie den Parolen der Vorpreschenden ihrer Kohorte keine Beachtung schenkt. Ihre Sehnsüchte tragen eigene Farben. „Ihr sprecht von Wonnen, die ich nicht begehre“ könnte sie mit Stefan George sagen.

Aminas Techniken kommen gestochen scharf. Schneller als andere setzt sie flankenstrategische Ansagen um. In der Meditation zeigt sie Anzeichen echter, das heißt lustvoller Entspannung. Wie alle, die auf den Trichter gekommen sind, kriegt sie nicht genug von einer Praxis, die den meisten vollständig verschlossen bleibt.

„Wir wissen heute, dass das Atmen nicht nur ein Verbrennungsvorgang ist.“ Antoine Laurent de Lavoisier

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Cole instruiert seine Trainerinnen. Anzustreben sei die Synchronisierung von Mühelosigkeit, Vorwärtsspannung, mentalem Zaun und Flankenstrategie.

“To control your opponent is the basic“, diktiert der in Lubbock, Texas, geborene Sohn eines dynastischen Texas Rangers und einer Kasseler Uradeligen, die in den Kordilleren verunglückte, als Cole drei war.

Coles Instruktorinnen schreiben mit. Die geistigen Grundlagen des Karate verbinden sich mit dem Körpergedächtnis. Wiederholungsmonotonie steuert Ausrichtungsprozesse.

Wer die gegnerische Hauptkraftlinie zu vermeiden versteht, dem öffnet sich eine Pforte zum Sieg.

Cole sucht nach Anzeichen innerer Unruhe bei den Praktizierenden*; versperrt sich eine unbewusst dem kollektiven Aufstieg? Indem man eine Weltmeisterin hervorbringt, erzeugt man einen energetischen Hotspot. Cole baut eine Batterie. Er schließt die Augen und leitet die eigene Versenkung ein. Er taucht ab, die Gefühlsgemengelage in der Stimmungstiefsee sondierend. Wer liegt mit wem überkreuz? Wer neidet wem was? Coles Sinne tasten Aminas gepanzertes Schweigen ab. Ihr schwebt kein Studium vor, sondern eine Ausbildung zur Physiotherapeutin. In Kassel gefällt es ihr gut genug, um zu bleiben.

Aus dem Off/In der Retrospektive

Bei dem Planziel Weltmeisterin ging es nicht um Verführung. „Man kann niemanden zum Sieg streicheln (Manfred Wolke).“ Cole brauchte jemand, der ihm widerstand und ihm dennoch folgte. Deshalb schieden jene aus, deren Entscheidungen sich in der Handicap-Hypothese erschöpften.

Nach der Handicap-Hypothese haben die Männchen mit den auffälligsten Farbtrachten schon deshalb gute Chancen bei den Weibchen, weil sie noch am Leben sind.“ Axel Buether

Pfauenhennen ziehen es vor, sich mit solchen Hähnen zu paaren, die übertriebene Prachtzeichen schmücken. Sie sind offensichtlich gesünder und kräftiger als ihre Rivalen. Folglich erscheinen die Ornamente (Pfauenaugen) als Marker der Überlebensfähigkeit. Quelle

„Amotz und Avishag Zahavi beschreiben die Grundgedanken des Handicap-Prinzips als ‚ganz einfach: Vergeudung kann sinnvoll sein, weil man dadurch schlüssig zeigt, dass man mehr als genug besitzt ... Gerade der Aufwand … macht die Aussage zuverlässig.‘“ Wikipedia

Cole durchschaute das evolutionäre Programm. Die Kandidatin durfte nicht der Sogwirkung seiner überbordenden Vorzüge erliegen.

War Amina aus dem richtigen Holz? Cole beschloss, sie tiefer in das geheimgesellschaftliche Unterholz zu ziehen, das seit der Hochzeit des niederhessischen Rittertums besteht. Er bestellte sie zu einem Zazen-Termin morgens um sechs. Cole gestattete der Debütantin den ersten Blick hinter die Kulissen. Er gewährte ihr Zugang zu dem privaten Trakt der Schule.

Cole führte Amina zum Dōjō der Verschwiegenen.

Der klandestine Ort glich einem Ayurvedischen Spa in der gehobensten Ausstattung. Zur Einstimmung erzählte Cole folgende Motivationsgeschichte:

Die Mount Everest-Trivialisierung

Als Sardar „Superfoot“ Tenzing Norgay, ein Mann aus dem Volk der Sherpa, gemeinsam mit dem Neuseeländer Ed Hillary 1953 zum Sitz der Götter vordrang, war die Welt aus dem Häuschen. In den Fernsehern rauschte die Sensation schwarzweiß auf. Im Duktus des verblassenden Kolonialimperialismus stand der weiße Brite an erster Stelle. Sein Aufstieg allein besaß Nachrichtenwert als nachgerade übermenschliche Leistung. Allen Befreiungskämpfen im globalen Süden zum Trotz stagnierte die Rezeption nach Maßstäben des 19. Jahrhunderts, als ein von Millionen Menschen und Milliarden Mücken seit Jahrtausenden frequentierter Ort irgendwo in Afrika nur deshalb plötzlich als entdeckt galt, weil so ein europäischer Schlumpf, der allein im Dschungel keinen Tag überlebt hätte, und den man da tragen musste, wo andere leichtfüßig blieben, im Schatten einer Zypresse sein Wasser abgeschlagen hatte.

Abstieg des Berges - Wie lauter Aufstiege den Mount Everest auf den Hund kommen ließen

In den folgenden dreißig Jahren verband sich jede weitere Mount Everest-Expedition mit Gefahr, Abenteuer und Tragik. Inzwischen schenkt sich die alert-solvente New Yorkerin, die schon alles hat, den Gipfeltraum im Himalaya als Spaziergang zum siebzigsten Geburtstag. Längst ist der Mount Everest klein gedacht worden von so vielen, die das Phantasma ihrer Grandiosität auf den höchsten Berg des Erdkreises projizierten.

Der Mount Everest wurde im Kopf der Menschheit bezwungen. Die Siebzigjährige auf dem Dach der Welt funktioniert nicht nur als Spielfigur der Entzauberung. Sie zeigt auch, was Gedankenkraft vermag. Auf den Brücken zur Magic Force sehen wir eine Re-Verzauberung, um noch einmal anders zu verstehen, wie nah wir den Göttern kommen können, wenn wir leicht werden.

Die Sache mit dem Narrativ

Der Vortrag kam bei Amina nicht besonders gut an. Obwohl sie verstand, worauf Cole hinauswollte. Man muss den Berg im Kopf bezwingen, bevor man ihn besteigen kann.

Es ging um das Supernarrativ.

Morgen mehr.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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