Tranchierter Schädel

#TexasText/Jamal Tuschick Alwin handelt mit der Rationalität des Paranoikers. Wo keine Angst ist, gibt es keinen Verlass. Alwin nennt sich Christ, doch heißt seine Religion Angst.

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An einem Abend im August 786 drängt es König Alwin, von Rosamund zu verlangen, aus dem tranchierten Schädel ihres königlichen, von Alwin persönlich geköpften Vaters einen Schluck Rotwein zu nehmen.

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„Man muss durch Schauspieler Texte jagen wie Stromstöße.“ Heiner Müller

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„Wenn ich tot bin, wird mein Staub nach dir schreien.“ HM

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„Dass Männer von Talent viel leiden müssen in gesellschaftlichen Umwälzungen“. Goethe nach Grimm

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Die SED zu Heiner Müllers „Umsiedlerin“ 1961: „Mit stinkender Frechheit abgrundtief das eigene Nest beschmutzt.“

Tranchierter Schädel

Beim Wettlauf um die Macht blieben drei Brüder und zwei Cousins auf der Strecke. Allein Alwin überlebte. Sein Thron ist eine schmucklose Angelegenheit, mehr ein Kasten als ein Stuhl. Am liebsten trinkt er aus dem Schädel des Schwiegervaters. König Alwin spaziert betrunken in seinen Erinnerungen an das Gemetzel, das für Rosamunds Vater zum letzten irdischen Erlebnis wurde. Wie gesagt, der gute Mann starb von Alwins Hand. Alwin wartete mit der Enthauptung, bis seine Krieger Rosamund aus ihrem Versteck gegraben hatten. Alwin schwelgte noch im Blutrausch, ein Christ so fern des Erbarmens.

Alwin weiß noch nicht, was Mitgefühl ist. Seine Ausbilder erschöpften sich darin, ihn an Waffen zu gewöhnen. Sie brachten ihm bei, sogar in seinen Brüdern Rivalen mit tödlichen Absichten zu erkennen. Andererseits bot allein die Familienbande Sicherheit. Ein schizophrener Zug fuhr spaltend durch Alwins Charakter.

Alwin handelt mit der Rationalität des Paranoikers. Wo keine Angst ist, gibt es keinen Verlass. Alwin nennt sich Christ, doch heißt seine Religion Angst. Sie zu verbreiten, hält Alwin für seine Pflicht. Deshalb schwang er den triefenden Kopf am Schopf vor Rosamund zu ihrem Entsetzen. Alwin wollte ihren Willen lähmen, sie sollte sich ihm niemals widersetzen. Er hätte Rosamund sonst töten und auf ihren Stammbaum verzichten müssen.

Die Äste an Rosamunds Stammbaum tragen die Früchte ihrer Legitimation. Solange Rosamund legitim in seiner Gewalt ist, kann Alwin ihre Rechte zu seinen machen. Das erklärt die Ehe, sie könnte jederzeit auch in der weiblichen Linie vorteilhaft sein. Es muss nur die Gewalt dahin gehen. In diesem Detail steckt die Ungeheuerlichkeit, Rosamunds Verbindung mit Alwin vernünftig zu finden. Die Kinder aus der Verbindung sind doppelt legitimierte Königskinder. Ihre Ansprüche werden weiterreichen als die Ansprüche der raffenden Eltern.

Es dauert kaum zwei Jahre, bis Rosamund die Erhebung zu genießen beginnt, die sich in ihrer Zwangslage ergeben hat. Der Mörder ihres Vaters verbessert sie beinah. Sie hätte sich so oder so nicht besser verheiraten können. Am Anfang war sie eine Gefangene, beobachtet mit Misstrauen und verfolgt von Hass. Als Alwins Gattin steht sie über den meisten, doch Einzelheiten ihrer Hochzeit kratzten am Status. Es knirschte im Gefüge der höfischen Ordnung, bis man dahin kam, Rosamund zum Wohl der Blutlinie in Ehren aufzunehmen.

Fleisch von ihrem Fleisch, das lebt. Der Vater nun mal tot. Wo Rosamunds Verwandtschaft herrscht, ziehen die Mauersegler und Schwalben im August genauso nach Süden wie in dem Himmel, den Rosamund sieht.

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Mit dem Kopf des Schwiegervaters auf seiner Lanze hatte Alwin den Triumphzug angeführt.

Äußerlich wirkt Alwin erhaben über jeden Zweifel an seiner Grausamkeit. Allerdings zweifelt er selbst an seiner Terrorpotenz, Männer neigen zu Versagensängsten nicht erst seit der Neuzeit. Also sagt Alwin wohlgemut zu Rosamund, sie ist schon ein bisschen über dem Punkt; es steckt etwas Prekäres in der Mischung aus Königin und Gebärautomat ohne Wahlrecht: „Ehe ich es vergesse, reiche ich dir den Schädel deines Vaters, damit du auch einmal das Vergnügen hast.“

Trank Rosamund?

Iris Leise stellte die Frage an einem Nachmittag im August 1978. Wir saßen im Hof des maurischen Schlosses, das der alte Heinrich Leise auf den Fuß des Brasselsbergs gestellt hatte. Es gab eine Arkade wie im Kino.

Iris‘ Vater war der Kasseler Lawrence von Arabien. Ein hessischer Hans-Jürgen Wischnewski. Der Ben Wisch unseres Ministerpräsidenten Holger Börner. Heinrichs Arabien-Macke war legendär.

Wir tranken Eistee und knabberten Kekse, die Iris‘ Mutter Margarete servierte. Wo wir hinkamen, wurde aufgetischt. Das war selbstverständlich, jedenfalls für die anderen.

Ich kannte das nicht aus meiner Kindheit.

Margarete suchte meine Nähe. Sie strich um mich herum, vornehm flirtend.

„Sie trinkt“, behauptete Roland. Madeleine war dabei, ihn endgültig zu verlassen, nachdem er sich in Frankfurt am Main, wo Madeleine nun Soziologie studierte, in einem Sponti-Auflauf danebenbenommen hatte.

Madeleines ältester Halbbruder Jan, der in Teheran aufgewachsen war und in Cambridge lehrte, zitierte Tolstoi: „Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche aber ist auf ihre eigene Art unglücklich.“

Der Weltmann war Neurologe, Spezialist für Prosopagnosie. Er hatte den Nachweis erbracht, dass Honoré de Balzac gesichtsblind war.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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