Ocean Walker

#TexasText/Jamal Tuschick Marianna Kurtto, „Tristania“ - „Mama, warum schaust du mich an wie ein hilfloses Kind. Ich bin ein Kaiser.“

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Ocean Walker

Am 10. Oktober 1961 bricht der Vulkan auf Tristan da Cunha aus. Die Inselbevölkerung erleidet ihre Evakuierung. Die Leute verbringen eine Nacht auf Nightingale Island, bevor die Expatriierung ins Mutterland Großbritannien erfolgt. Der Exodus und eine von Ablehnung gerahmte Diaspora (vor allem in Calshot) ergibt schließlich sogar ein Briefmarkenmotiv.

Die meisten Insulaner:innen kehren 1963 zurück.

Voller Sehnsucht nach seinem isolierten Hügel aus Ergussgestein und doch längst verloren für die kleine Welt, verherrlicht Marianna Kurttos Held Lars das Glück im ozeanischen Winkel:

„Auf meiner Insel ist das Wasser Wasser und der Nebel Nebel und auf den Tischen sieht man die Spuren vom Entschuppen der Fische.“

Die Autorin schildert das Dasein der Insulaner:innen. Lars erscheint als Wanderer zwischen den Welten. Sein Radius übersteigt die Reichweite seiner Nachbar:innen. Er sieht sie als „Herde, die gemeinsam lebt, jagt, liebt … und stinkt“.

Die Herde stinkt „nach Fisch, Schafwolle und Erde“.

Martha, die Lehrerin, gehört dazu. Sie liebt es, Wale an der Insel vorüberziehen zu sehen. Sie beschwört die Monogamie der Giganten. Ihrem bodenständigen Gatten Bert fehlt Lars‘ Umtriebigkeit. Er feiert den Gleichklang der Tage, so wie die meisten Siedler:innen auf Tristan da Cunha.

Unerwartete Liebe

Beim Kauf von Blumen für seine Frau verliebt sich Lars - weit weg von zuhause - in die Blumenverkäuferin Yvonne. Die unerwartete Liebe sprengt einen ebenso schmalen wie speziellen Daseinsrahmen. Lars lebt zum Zeitpunkt der ersten Begegnung noch auf Tristan da Cunha, dem entlegensten, unter den bevölkerten Flecken unseres Planeten. „Der letzte (besiedelte) Winkel des britischen Königreichs“ liegt auf der Hauptinsel des gleichnamigen (von Tristão da Cunha entdeckten) Archipels (Quelle). In der Handlungsgegenwart verteilen sich dreihundert Personen in einem ewigen Drama aus „Mangel und Kampf“ auf dem Kegelkopf eines submarinen Vulkans, dessen höchste Erhebungen Queen Mary‘s Peak und Mount Olav heißen.

Marianna Kurtto, „Tristania“, Roman, aus dem Finnischen von Stefan Moster, mareverlag, 303 Seiten, 24,-

Der Vulkan hat auf Gough einen vierhundert Kilometer entfernt aufragenden Zwilling. Am 10. Oktober 1961 bricht er aus. Kurz vor der Eruption erinnert Lars‘ Sohn Jon einen magischen Kindheitsmoment. Der memorierte Augenblick verbindet sich mit dem mütterlichen Duft „nackter Schultern“.

„Der Bogen des Nackens stammt aus dem Skizzenbuch Gottes.“

Einst beobachtete Jon, wie seine Mutter Lise den Abstand zu ihrem Mann Lars auf einem Aufmerksamkeitsstrahl überwand.

Die Vorzeichnung eines Nachbildes - Lise lehnt an einem Baum im Garten. Lars steht am Fenster und sieht sie an. Der väterliche Verehrungsblick geht Jon unter die Haut, obwohl die Anbetung ihn nichts angeht.

Bei anderer Gelegenheit möchte Jon sagen:

„Mama, warum schaust du mich an wie ein hilfloses Kind. Ich bin ein Kaiser.“

Lars verlässt die Seinen. Er wirbt um Yvonne. Sie zeigt sich entgegenkommend. Dem Verehrer gelingt es, der Verehrten seine Herkunft und sein Heimweh klarzumachen. In Kleinstadtkinos und billigen Lokalen bereitet sich das heimliche Paar auf ein gemeinsames Leben vor.

„Nachdem Yvonne und ich lange genug in Cafés und auf Parkbänken … gesessen hatten, beschloss sie, mich zu sich zu nehmen.“

Ihre Wohnung ist ein Ausweis weitreichender Nachlässigkeit. Lars registriert Verhältnisse mit dem Charme einer Absteige. Er richtet sich in dem ramponierten Haushalt ein. Klagend vergleicht er Yvonnes Privatsphäre mit seiner maritim-heimatlichen Häuslichkeit. Wehmütig bedenkt er die tadellose Regie seiner angetrauten Frau. Eine Erinnerung an Lise, wie sie „Pinguineier in die Pfanne schlägt“, löst einen Sehnsuchtsschub aus.

*

Yvonnes Mutter Carol erkennt in Lars lediglich den „alten Kerl von einer gottverlassenen Felseninsel“. Der Fremde erzählt in Yvonnes Familienkreis von einem Zirkusschiff, das vor Tristan da Cunha sank. Alle Artist:innen und fast alle Tiere ertranken. Allein ein Löwe rettete sich auf die Insel.

Lars verfehlt jedweden guten Eindruck bei Yvonnes Leuten. Im Gegenlicht sozialer Niederlagen verherrlicht der Außenseiter seine solide Stellung als urwüchsiger Einheimischer auf Tristan da Cunha. Er rühmt die verlassene Lise als „reelle und willensstarke Frau“.

Lars bedenkt die glücklichen Jahre als Ehemann im Inselhauptdorf Edinburgh of the Seven Seas, von den Edinburgher:innen The Settlement genannt. Er erzählt von der Geburt seines eigenwilligen Sohnes. Jon hatte es eilig, sich dem Paar anzuschließen. Etwas beinah Kompromittierendes lag in der überstürzten Familiengründung; so als habe Lise und Lars vor der Zeugung nicht erst die Hochzeitsglocken verklingen lassen.

Aus der Ankündigung

Zwei Menschen, die sich in ihrer heimischen Inselgemeinschaft nicht zu Hause fühlen: Der Fischer Lars lässt Frau und Sohn auf Tristan da Cunha zurück, weil er sich in England neu verliebt hat. Und auch Martha, die Insellehrerin, träumt von einem Schiff, das sie mitnimmt. Sie musste erfahren, dass sie nicht allen Insulanern vertrauen und überdies mit ihrem Mann kein Kind bekommen kann. Und dann, eines Tages, bricht auf Tristan der Vulkan aus. Alle Bewohner müssen fliehen. Nur Jon, Lars’ Sohn und Marthas Schüler, wird plötzlich vermisst, und Lars und Martha erkennen, dass ihre Schicksale untrennbar mit der Insel verbunden sind.
In poetischer, bildmächtiger Sprache erzählt Marianna Kurtto eine universell menschliche Geschichte voll spannungsreicher Wendungen – mit Figuren, die uns nahe sind in ihren Irrungen und Wirrungen und in ihrer Sehnsucht nach der wirklichen Heimat.
Zur Autorin

Marianna Kurtto, geboren 1980 in Helsinki, lebt seit einigen Jahren auf dem Land, alsWriter in Residenceim Haus der Schriftstellerin Eeva Joenpelto. In Finnland erschienen von ihr bisher fünf Gedichtbände und zwei Romane. Sie wurde mit diversen Literaturpreisen ausgezeichnet. Ihr DebütromanTristaniawurde für den Preis des Nordischen Rates nominiert, in mehrere Sprachen übersetzt und ist ihr erstes Werk, das auf Deutsch erscheint.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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