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#TexasText/Jamal Tuschick Xiaolu Guo, „Eine Sprache der Liebe“ - Die Verabredungsgenauigkeit ihres Geliebten lässt die Erzählerin an Zahnarzttermine denken.

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Kritische Selbstbefragung

„Du warst unrasiert, aber ein schöner Anblick.“

Sie hasst die Bauhausbauweise. Die englische Bezeichnung für Wohnung - Flat erscheint ihr exorbitant unzutreffend. Mit ihrem Doktorvater am Londoner King’s College diskutiert die Stipendiatin kontrovers „Phänomene der Postmoderne“. Kunsthandwerklich seriell arbeitende, auf Meister:innenwerke spezialisierte Kopist:innen sind für Xiaolu Guo keine Fälscher:innen, sondern avancierte Akteure im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Kunstwerken. Sie zitiert Roland Barthes poststrukturalistisches Fanal vom „Tod des Autors“ und erwähnt Walter Benjamins bahnbrechende Analyse Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Die Idee vom Geistigen Eigentum erklärt Xiaolu Guo - vielleicht nur aus einer Laune und um im Beat des Widerspruchs zu bleiben - zum „bourgeoisen Begriff“.

Xiaolu Guo, „Eine Sprache der Liebe“, Memoir, aus dem Englischen von Anne Rademacher, Penguin Verlag, 297 Seiten, 24,-

Die Verabredungsgenauigkeit ihres Geliebten lässt die Erzählerin an Zahnarzttermine denken.

„Du sagtest, dass du … spätestens um kurz vor 14 Uhr wieder losmüsstest. Für mich klang das schrecklich.“

Die Verständigung stockt an allen kulturellen Ecken und Enden, während die Missverständnisse grassieren. Der Liebhaber präsentiert sich als „australischer Angelsachse“.

„Eigentlich bin ich ein … Wasp.“

Für Xiaolu bezeichnet Wasp eine Wespe.

„Ein Wasp ist ein weißer angelsächsischer Protestant.“

Am Ende entpuppt sich der Wasp als der - in Australien aufgewachsene - Sohn einer englischen Mutter und eines deutschen, aus Hannover gebürtigen Vaters. Hannover assoziiert Xiaolu mit den „Scorpions“.

*

Gern kochte Xiaolu Guos Großmutter einen „Eintopf aus Schweinedärmen und Leber“. Die Mutter rotzte Schleimpfropfen zwischen Grabsteine. Ihr Verhältnis zum Tod strotzte vor Pietätslosigkeit.

*

Eine Biografie über die Anthropologin Margaret Mead weckte Xiaolu Guos Interesse am Westen. Im Jahr des Brexit-Referendums kam sie nach London. Da sah sie zum ersten Mal einen Mann, der Blumen pflückte. Er wurde ihr Liebhaber. Sie verlieh ihm den Kosenamen „Holunderblütenpflücker“.

In ständiger Ansprache taucht der Landschaftsarchitekt als ‚Du‘ im Text auf.

Das unerprobte Paar durchläuft zügig die Annäherungsphase, bis es einen gemeinsamen Hausstand auf einem Semi-Trad-Narrowboat namens Old Mary gründet. Semi Trad wie Semi Traditional.

„Narrowboat … bezeichnet einen Bootstyp, der seit etwa 1750 auf den Binnenwasserstraßen in England und Wales genutzt wird.“ Wikipedia

Der Binnenschiffer:innenkahn ist in einem miserablen Zustand. Die Hausbootbewohnerin und ihr Holunderblütenpflücker taufen ihr neues Zuhause in Misty um. Vorübergehend existieren sie in einem hygienischen Notstand. Das Leben auf Kanälen entfremdet Xiaolu ihrer akademischen Routine. Sie pflanzt Schnittlauch und Koriander in „alten Holzkisten“ an. Beim Sex lenkt sie „Vogelscheiße ab, die am Schlafzimmerfenster trocknet“.

Die Aufzeichnungen lesen sich wie eine kritische Selbstbefragung.

Aus der Ankündigung

Eine Liebe im Spannungsfeld von östlicher und westlicher Lebenswelt: charmant, poetisch und voller Humor Eine junge Chinesin kommt nach London. Sie lässt alles hinter sich, will ein neues Leben beginnen. Doch in der fremden Kultur und der fremden Sprache fühlt sie sich zunächst nur einsam und verloren. Bis sie sich in einen australischen Landschaftsarchitekten mit britisch-deutschen Wurzeln verliebt. Eine vorsichtige Annäherung beginnt. Voller Neugier auf die Fremdheit des Anderen, aber auch voller kultureller Missverständnisse. Beide versuchen, eine tragfähige Sprache als Fundament ihrer Liebe zu finden. Kann diese Liebe für beide zu einer neuen Heimat werden? Authentisch, offen, aber auch mit viel Selbstironie beschreibt Xiaolu Guo die vielfältigen Verwirrungen zwischen West und Ost und erzählt eindrücklich von einer ungewöhnlichen Liebe.

Zur Autorin

Xiaolu Guo gehört zu den interessantesten Autorinnen der jüngeren Generation in China. 1973 in einer kleinen Stadt am Chinesischen Meer geboren, ging sie mit 18 Jahren nach Beijing, wo sie an der Filmhochschule studierte. Im Jahr 2002 zog sie nach London. Ihr noch in China geschriebener Roman „Stadt der Steine“ wurde hier 2004 von Presse und Lesern begeistert aufgenommen. Danach begann Guo, auf Englisch zu schreiben. All ihre nachfolgenden Romane waren für renommierte Preise nominiert. Mit ihrer Autobiographie „Es war einmal in Fernen Osten“ gewann sie den National Book Critics Circle Award 2017. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in London und Berlin.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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