Das Glück in einem ozeanischen Winkel

#TexasText/Marianna Kurtto „Tristania“ - Da ist Martha, die Lehrerin. Sie liebt es, Wale an der Insel vorüberziehen zu sehen.

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„Auf meiner Insel ist das Wasser Wasser und der Nebel Nebel und auf den Tischen sieht man die Spuren vom Entschuppen der Fische.“

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Die Geschichte beginnt mit idyllischen Alltagszenen auf dem entlegensten Flecken unseres Planeten. Marianna Kurtto erkor Tristan da Cunha zum Romanschauplatz. In der Handlungsgegenwart leben dreihundert Personen auf der südatlantischen Hauptinsel des gleichnamigen (von Tristão da Cunha entdeckten und benannten) Archipels (Quelle). Sie verteilen sich auf dem Kegelkopf eines submarinen Vulkans, dessen höchste Erhebungen Queen Mary‘s Peak und Mount Olav heißen.

Vorzeichnung eines Nachbildes

Der Vulkan hat auf Gough einen vierhundert Kilometer entfernt aufragenden Zwilling. Am 10. Oktober 1961 bricht er aus. Kurz vor der Eruption erinnert ein jugendlicher Insulaner einen magischen Kindheitsmoment. Der evozierte Augenblick verbindet sich mit dem mütterlichen Duft „nackter Schultern“. Einst beobachtete Jon, wie seine Mutter Lise den Abstand zu ihrem Mann Lars auf einem Aufmerksamkeitsstrahl überwand.

Die Vorzeichnung eines Nachbildes. Lise lehnt an einem Baum in ihrem Garten. Lars steht am Fenster und sieht sie an. Der väterliche Verehrungsblick geht Jon unter die Haut, obwohl die Anbetung ihn nichts angeht.

Marianna Kurtto, „Tristania“, Roman, aus dem Finnischen von Stefan Moster, mareverlag, 303 Seiten, 24,-

Das Datum bildet einen Kulminationspunkt. Die Bevölkerung erleidet ihre Evakuierung. Die Leute verbringen eine Nacht auf Nightingale Island, bevor die Expatriierung ins Mutterland Großbritannien erfolgt. Der Exodus und eine von Ablehnung gerahmte Diaspora (vor allem in Calshot) ergibt schließlich sogar ein Briefmarkenmotiv.

Die meisten Insulaner:innen* kehren 1963 zurück. Voller Sehnsucht nach seinem isolierten Hügel aus Ergussgestein, und doch längst verloren für die kleine Welt, verherrlicht Lars das Glück in einem ozeanischen Winkel: „Auf meiner Insel ist das Wasser Wasser und der Nebel Nebel und auf den Tischen sieht man die Spuren vom Entschuppen der Fische.“

Kurtto schildert das Dasein der Insulaner:innen*. Lars erscheint als Wanderer (Ocean Walker) zwischen den Welten. Sein Radius übersteigt die Reichweite seiner Nachbar:innen*. Er sieht sie als „Herde, die gemeinsam lebt, jagt, liebt … und stinkt“.

Die Herde stinkt „nach Fisch, Schafwolle und Erde“.

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Da ist Martha, die Lehrerin. Sie liebt es, Wale an der Insel vorüberziehen zu sehen. Sie beschwört die Monogamie der Giganten. Ihrem bodenständigen Gatten Bert fehlt Lars‘ Umtriebigkeit. Er feiert den Gleichklang der Tage, so wie die meisten Siedler:innen* auf Tristan da Cunha. Bald mehr.

Aus der Ankündigung

Zwei Menschen, die sich in ihrer heimischen Inselgemeinschaft nicht zu Hause fühlen: Der Fischer Lars lässt Frau und Sohn auf Tristan da Cunha zurück, weil er sich in England neu verliebt hat. Und auch Martha, die Insellehrerin, träumt von einem Schiff, das sie mitnimmt. Sie musste erfahren, dass sie nicht allen Insulanern vertrauen und überdies mit ihrem Mann kein Kind bekommen kann. Und dann, eines Tages, bricht auf Tristan der Vulkan aus. Alle Bewohner müssen fliehen. Nur Jon, Lars’ Sohn und Marthas Schüler, wird plötzlich vermisst, und Lars und Martha erkennen, dass ihre Schicksale untrennbar mit der Insel verbunden sind.
In poetischer, bildmächtiger Sprache erzählt Marianna Kurtto eine universell menschliche Geschichte voll spannungsreicher Wendungen – mit Figuren, die uns nahe sind in ihren Irrungen und Wirrungen und in ihrer Sehnsucht nach der wirklichen Heimat.

Zur Autorin

Marianna Kurtto, geboren 1980 in Helsinki, lebt seit einigen Jahren auf dem Land, als Writer in Residence im Haus der Schriftstellerin Eeva Joenpelto. In Finnland erschienen von ihr bisher fünf Gedichtbände und zwei Romane. Sie wurde mit diversen Literaturpreisen ausgezeichnet. Ihr Debütroman Tristania wurde für den Preis des Nordischen Rates nominiert, in mehrere Sprachen übersetzt und ist ihr erstes Werk, das auf Deutsch erscheint.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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