Kokura

#TexasText/Miss Nagasaki Nagasaki war lediglich ein Ausweichziel. Wäre bei der Mission des Never-regret-Majors Charles W. Sweeneys alles nach Plan verlaufen, trüge die antike Festung Kokura gemeinsam mit Hiroshima die Menetekellast nuklearer Verdammung.

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„In vielerlei Hinsicht betrachte ich die Zeit (in Nagasaki) als die besten zwei Jahre meines Lebens - bisher.“ Winfield P. Niblo

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Am 9. August 1945 ist die Stadt lediglich ein Ausweichziel. Wäre bei der Mission des Never-regret-Majors Charles W. Sweeneys alles nach Plan verlaufen, trüge Kokura gemeinsam mit Hiroshima die Menetekellast nuklearer Verdammung.

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Am 6. August 1945 fällt Little Boy auf Hiroshima. Siebzigtausend Menschen sterben in der Unmittelbarkeit des Detonationsgeschehens. Der Atomblitz sorgt für bizarre Formate. Seine unfassbare Helligkeit, das apokalyptische Licht, die grausame Illumination stiftet einen neuen Begriff: Pikadon. Bald wird dem Wort für eine neue Erfahrung ein neues Wort für eine alte Erfahrung wie ein verspäteter Zwilling folgen: Kokura.

Hundertsechzigtausend Tote zählt man im weiteren Verlauf, während das schleichende Sterben sofort beginnt.

Drei Tage später erhöhen die Vereinigten Staaten den Leidensdruck auf die japanische Zivilbevölkerung. Im Epizentrum der zweiten nuklearen Verwüstung liegt Nagasakis Nordend Urakami. Der Bezirk bildet das historische Zentrum der katholischen Diaspora. Man nennt ihn das Rom des Ostens. Die Vorfahren der Minderheit trotzten massiver Unterdrückung.

Freiwillige Isolation ist eine japanische Spezialität. Seit den 1580er Jahren schränkte das Tokugawa-Shōgunat die Verkehrsfreiheit der als Südbarbaren geschmähten, den Katholizismus verbreitende Portugiesen und Spanier ein. 1587 beendete Reichseiniger Toyotomi Hideyoshi (1537 - 1598) die Religionsfreiheit, um den Einfluss der Missionare versiegen zu lassen. Die Massenhinrichtung jesuitischer und franziskanischer Missionare besiegelte gewissermaßen ein Edikt von Nagasaki im widerrufenden Geist des Edikts von Fontainebleau. Das Exempel statuierte Toyotomi in Nagasaki nicht zufällig, war doch das über seine topografischen Ufer getretene Küstenkaff das einzige japanische Tor zur Welt. Das Fischernest hypostasierte als internationale Drehscheibe einen Kolossalwiderspruch zu den isolationistischen Neigungen des japanischen Feudalwesens. 1635 verloren alle Japanerinnen und Japaner ihre Reisefreiheit. Von 1639 bis 1853 blieb man unter sich und behielt die mittelalterlichen Standards bei. Nebenbei: Die Nagasaki Shipping List and Advertiser, gegründet 1861, war das erste englischsprachige Periodikum in Japan.

Nagasaki hatte stets die Nase vorn, wenn es darum ging, über den nationalen Tellerrand zu gucken. Die Präfektur Nagasaki weist die längste japanische Küstenlinie auf. Ihre ozeanische Referenz ist das Ostchinesische Meer. Sie liegt hauptsächlich auf der Insel Kyūshū.

Auf einem weitläufigen Umweg lässt sich der Knotenpunkt Nagasaki als Schauplatz entgegengesetzter archetypischer Prozesse deuten. Um 1543 erreichten - in der Gestalt portugiesischer Briganten - zum ersten Mal Europäer das japanische Festland. António da Mota und Francisco Zeimoto erschienen als Botschafter einer fremden Zivilisation.

In der altweltlichen Wahrnehmung bot sich Japan mythischen Spekulationen an. Es kursierte die Vorstellung von einem Goldland im Osten. Man phantasierte die Insel zusammen mit einer Terra australis nondum cognita.

Die versprengten Iberer erlebten die Keimzeit einer Phase empfangsbereiter Außenpolitik. Man spricht von der Ära des Namban-Handels. Die staatliche Offenheit währte keine hundert Jahre. Tokugawa Iemitsu (1604 - 1651), dritter Shōgun seiner Dynastie, dichtete Japan 1633 ab. Übrigens betrieb auch Iemitsu Christenverfolgung im römischen Stil.

Die Freibeuter waren mit Arkebusen bewaffnet, die das unvorbereitete Interesse eines Provinzmoguls erregten. Er erwarb die Schießprügel, um sie seinem Palastschmied zum Nachbau vorzulegen. Bald etablierten sich so überragende Büchsenmacher, dass ihre schließlich eingemottete Produktion im 19. Jahrhundert wieder funktionstüchtig gemacht werden konnte. Die japanische Kriegerkaste integrierte die Feuerwaffen in ihre Konzepte, die von einem ewigen Krieg diktiert wurden.

Nuklearer Futurismus

Um 1575 bestimmten Vorderlader mit Luntenschlössern (Tanegashima-Arkebusen) das Geschehen auf den japanischen Schlachtfeldern. Dabei kamen mehr und bessere Gewehre zum Einsatz als im Europa des 16. Jahrhunderts. Die Ära endete nach 1600 mit dem Beginn der Edo-Epoche. Ab 1603 beanspruchte Tokugawa Ieyasu (1543 - 1616) die Shōgun-Macht für seine Dynastie. Er leitete einen Prozess ein, den Noel Perrin einmal als „erworbene Unkenntnis“ bezeichnete. Feuerwaffen wurden ausrangiert und bis 1853 nur zu zeremoniösen Zwecken eingesetzt. Die technologische Zurücksetzung ergab sich in einem Konkurrenzverhältnis zu militärischen Gepflogenheiten, die ich nicht erörtern will. Entscheidend ist, dass eine historisch einmalige Entwicklung, nämlich der sozial begründete Verzicht auf eine überlegene Technik, im krassen Gegensatz zu dem Einsatz der amerikanischen Atombomben stand. Der nukleare Futurismus von 1945 folgte der Idee von einem linearen, letztlich unumkehrbaren Fortschritt. Was erst einmal in der Welt ist, kommt da auch zum Einsatz.

Die japanische Haltung steht dazu in einem Widerspruch ohne philosophischen Nährwert. Es ist einfach nur eine Posse der Geschichte, dass da, wo das Schrecklichste passierte, ein Beispiel auf der Strecke geblieben war, dass man etwas Machbares auch lassen kann.

Was wäre geschehen, wenn die Atombombe von einer ethischen Grenze eingehegt worden wäre?

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Das Tokugawa-Shōgunat beschränkte den Kontakt zu Europäern auf Vertreter der Verenigden Oostindischen Compagnie, die als Expatriierte auf einer stinkenden, aus dem Meerbusen vor Nagasaki ragenden, mühsamer Landgewinnung abgetrotzten Erhebung namens Dejima konzentriert wurden. So kläglich und unhygienisch da alles war, es bot sich doch einer Monopolstellung, die erst von amerikanischer Kanonenbootpolitik 1853 gebrochen wurde, zur Nachsicht an. Dass die kleinen Niederlande Portugal ausstachen, verdankte sich vielen verdeckten Bemühungen und hatte jedenfalls auch diesen Grund: die Holländer missionierten nicht; anders als die katholischen Imperialisten, die Japan „entdeckt” hatten und ihr Programm nach Schema F betrieben. - Und auch wieder nicht. Die besonderen kulturellen Formate Japans wurde von allen Reisenden geschildert. Im Gegenzug studierten Japaner europäische Vorsprünge etwa im Rahmen der Hollandkunde-Rangaku.

Zum Martyrium japanischer Christ:innen*: ein französischer Chronist berichtet von Kreuzigungsfestivals. Der Sohn hugenottischer Flüchtlinge kam zuerst als Küchenhelfer auf einem holländischen Schiff nach Japan. Er bildete sich zum Dolmetscher aus und fand in dieser Rolle Gelegenheit, einem Fürsten nahezukommen.

1637 erhoben sich vornehmlich christliche Bäuer:innen* unter der Ägide von Amakusa Shirō. Der Schimabara-Aufstand endete 1638 in einer blutigen Niederlage der Unterdrückten. Man enthauptete den Anführer und brachte den aufgespießten Kopf im Triumphzug nach Nagasaki.

Morgen mehr.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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