Spielregeln der Segregation

#TexasText/Werner Angress „Flucht und Rückkehr. Erinnerungen eines jüdischen Berliners 1920 – 1945“ - Die strenggläubige Großmutter Amalie Trepp stammt aus einer Familie, die seit dem 15. Jahrhundert in Fulda ansässig war.

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Die strenggläubige Großmutter Amalie Trepp stammt aus einer Familie, die seit dem 15. Jahrhundert in Fulda ansässig war. Folglich lebten ihre Vorfahren in Reichweite der Inquisition. Fulda ging den landgräflich-hessischen Weg der Reformation nicht mit. Die Stadt blieb eine katholische Bastion. Ich fand eben eine Zahl. 1567 gab es in Fulda achtzehn jüdische Hausgenossenschaften vulgo Familien (Quelle). Pogrome ergaben sich im Rahmen der Themenkreise Pest und Ritualmord. 1591 plünderten marodierende Spießgesellen aka nomadisierende Haudegen die jüdische Bevölkerung (Quelle). Christliche Fuldaer:innen* versäumten es, einer amtlichen Beistandsverpflichtung nachzukommen. Auf einem Gemeindesockel von fünfzig Haushalten stellte man 1603 einen jüdischen Gerichtshof und eine Jeschiwa (Talmudschule), die unter Rabbiner Maharam Schiff Renommee erntete (Quelle).

Werner Angress, „Flucht und Rückkehr. Erinnerungen eines jüdischen Berliners 1920 – 1945“, herausgegeben von Norbert Kampe und Kai-Alexander Moslé, 386 Seiten, 41 Abbildungen, Hentrich & Hentrich, 24.90 Euro

„Um 1550 war die Fuldaer Synagoge die einzige im Hochstift Fulda.“ Auf das Jahr 1575 datiert der „Lehnbrief“ über die Jeschiwa (Quelle). Die Einrichtung befand sich „hinter der Treppe“ (Quelle). Aus der topografischen Angabe leitet sich der Familienname Trepp ab.

„1671 wurden alle Juden aus Fulda (und dem Fürstbistum) ausgewiesen bis auf fünf Familien“ (Quelle). Die Familie Trepp zählte zu den Verbleibenden.

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Ich will mich nicht in der illustren Familiengeschichte verlieren, sondern so schnell wie möglich mit dem Helden nach Amerika aufbrechen. Unter dem stetig zunehmenden antisemitischen Druck nach der nationalsozialistischen Machtergreifung schwindet der deutschnationale Patriotismus des Familienvorstands Angress. Seinen Sohn Werner schickt Angress Senior auf das Lehrgut Groß Breesen (heute Brzezno Trzebnica). Die 1936 von der Reichsvertretung der Deutschen Juden gegründete Siedler:innen*schule diente der Hachschara, der Vorbereitung auf eine Pionier:innen*existenz in Palästina.

1937 wandert die Familie aus. Eine jüdische Spedition besorgt den Umzug des Hausrats nach London. Die Emigration erfolgt auf einem Parcours der Überraschungen. Werner soll nach Amsterdam fliegen. Man hält ihn am Flugplatz Tempelhof auf. Es folgen aufreibende Stunden mit Kinokrimi und Taximarathon quer durch Berlin. Um Mitternacht erreicht der Exilant in spe einen Zug in die niederländische Freiheit. Werner reist als Vorhut, sein Vater will zunächst umgehend folgen; wählt dann aber einen kolossalen Umweg. Trotzdem komplettiert sich die Familie in London. Wegen einer mütterlichen Affäre hängt der provisorische Haussegen schief. Werner entgeht dem sozialen Stress. Fotos zeigen kantige Konturen im Ornat aufrechterhaltener Bürgerlichkeit. Man ahnt das Widerstandspotential gegen die faschistische Deklassierung.

Im nächsten Augenblick arbeitet Werner auf einer Farm in Richmond, Virginia. Die Hyde Farmlands fungieren als Auffangbecken für Geflüchtete. Die europäische Gegenstelle ist das Werkdorp Nieuwesluis (nahe Slootdorp im Wieringermeer), „eine von 1934 bis 1941 bestehende, von der Stichting Joodse Arbeid verwaltete Einrichtung der Hachschara.

„Von 1934 bis 1941 bestand in der Nähe von Slootdorp … ein jüdisches Arbeiterdorf. Das Dorf wurde u.a. von George van den Bergh … gegründet.“ Quelle

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Werner lernt die Spielregeln der Segregation. In dem historischen Hotspot der Konföderation perpetuiert man systemisch die Herabsetzung der Schwarzen. Bei einer Begegnung mit Töchtern der Gegend stimmt Werner arglos ein Yankee-Lied an. Die Southern Belles halten mit einer Dixie-Hymne dagegen.

Der Autor arbeitet den Unterschied zwischen der Diskriminierung, der er nach Amerika entgangen ist, und der institutionalisierten Erniedrigung der Schwarzen in den Vereinigten Staaten heraus.

„Anreden sollten wir einen … lediglich mit dessen Vornamen … keineswegs … mit Mister … (wir) hatten Deutschland, wo man uns als rassisch minderwertige Untermenschen gedemütigt und verfolgt hatte, verlassen, und wurden nun … von einem jüdischen Amerikaner … angewiesen, wie ein Weißer mit einem Schwarzen umzugehen hatte.“

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Die Exilant:innen* in Werners Reichweite bilden keinen homogenen Verband. Jugendängste des Erzählers dräuen in dem ungebremsten Bressener Gemeinschaftssinn, der Werner beseelt und den er bei solchen vermisst, die auf ihren Vorteil pochen und das Große und Ganze im schnöden Einerlei des Egoismus untergehen lassen.

Der Chronist findet diskrete Formulierungen für das, was sein adoleszentes Ich als Unterwanderung und Zersetzung einer diasporischen Überlebenselite wahrnimmt. Werner rutscht bald aus dem Zivilleben in den Militärdienst. In einem Drugstore auf Richmonds Hauptstraße lässt er sich von einem mürrischen Sergeanten einschwören.

Werner verstärkt das Heer der Eingezogenen. In diesem Prozess kollidiert die Mitte der Gesellschaft mit jenen Berufssoldaten, die sich den Herausforderungen einer bürgerlichen Existenz in der Armee entzogen haben und ihre Beschränktheit bei jeder Gelegenheit zum Maßstab machen.

Angress erzählt das so. Bald mehr.

Weiter aus der Ankündigung

Gestützt auf frühe Aufzeichnungen und sein Kriegstagebuch beschreibt Werner Angress (1920–2010) die ersten 25 Jahre seines Lebens und legt damit einen anschaulichen Bericht vom Schicksal einer Generation vor: Schulzeit im antisemitisch bestimmten Alltag in Berlin, prägende Jahre im jüdischen Jugendbund und im Auswandererlehrgut Groß Breesen, die beinahe gescheiterte Flucht der Familie und der Neuanfang in Amsterdam, Auswanderung in die USA, die Sorge um Eltern und Brüder in den Niederlanden nach der deutschen Invasion, freiwillige Meldung zur US-Army und Ausbildung zum Gefangenenverhörer, Landung als Fallschirmspringer in der Normandie und zeitweilige Kriegsgefangenschaft, Teilnahme am Kampf gegen die deutsche Ardennenoffensive, Befreiung des KZ Wöbbelin, Sortierung nach „Schafen und Wölfen“ unter den gefangenen Wehrmachtsangehörigen und SS-Männern und schließlich das Wiedersehen mit Mutter und Brüdern in Amsterdam.

Zum Autor

Werner Angress (1920–2010), als ältester Sohn einer bürgerlichen jüdischen Familie in Berlin aufgewachsen, emigrierte er 1939 in die USA. Als US-Soldat kämpfte er vom D-Day bis zum Kriegsende. In den USA lehrte er 35 Jahre als Professor für europäische Geschichte. Nach der Emeritierung zog Angress 1988 zurück nach Berlin. Herausgegeben von Norbert Kampe und Kai-Alexander Moslé

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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