Das Leben lieben

Virginia Woolf Sogar ihre Lebensfreude erklärt sich Clarissa Dalloway dynastisch

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Dynastische Lebensfreude/Adlige Ahnen

Sogar ihre Lebensfreude erklärt sich Clarissa Dalloway dynastisch. Sie stammt von Schranzen ab, die in der Ära der vier hannoverschen Georges die Platten putzten. Die Welfen auf Englands Thron herrschten von 1714 bis 1837. Sie hatten durch die Bank eine schlechte Presse. Sie popularisierten den Schick von Hahnen- und Boxkämpfen so wie von öffentlichen Hinrichtungen in der Hochzeit des Deportationsbetrieb Richtung Tasmanien und Australien.

Der Kurfürst von Hannover bestieg als Georg I. 1714 den englischen Thron, da das Haus Stuart gerade keinen königlichen Protestanten an den Start bringen konnte. Mrs Galloways adligen Ahnen könnten - als royale Gaben - jene Preziosen ursprünglich besessen haben, die in der Handlungsgegenwart des Romans - den Roaring Twenties - in den Auslagen verschwiegener Juweliere vermögende Amerikanerinnen zum Kauf verführen sollen. Das britische Empire knickt gerade vorbeugend ein, während der ewige Junior seine Adlerschwingen ausbreitet.

Die Heraldik im ‚Great Seal of the United States‘ - dem Hoheitszeichen der Vereinigten Staaten - bewahrt ein Signal der Emanzipation vom Mutterland Großbritannien. In seinem Schnabel trägt der Wappenadler „eine Schriftrolle mit der lateinischen Inschrift E pluribus unum - One from many. Die #vielen waren kleine Fische einst im Vergleich zum Empire. Jetzt sind die Kleinen groß. Konkurrenz, Neid, Melancholie, Abendglanz und Morgenröte … so vieles spielt in die Details, die Virginia Wolff extrem verdichtet.

„Unter starkem Druck und bei glühender Hitze fügen sich Kohlenstoffatome zu einem festen Kristallgitter und bilden Rohdiamanten.“ Quelle

Wolffs komprimierte Wahrnehmung lädt zu einem Bild ein, in dem jene erdgeschichtlichen Prozesse, die Edelsteine entstehen lassen, in einen Vergleich mit Wolffs brillant funkelnder Perzeption führen. Ein ebenso selbstgewisser wie überholter Geschichtsbegriff macht die körperlich angeschlagene Mrs Dalloway zu einer Fin de Siècle-Figur. Der koloniale Ladenschwengel USA übernimmt gerade die Geschäftsführung, aber noch wähnt sich die Brit:innen im Kapitänshaus der Welt.

Die globale Suprematie ist futsch. Der Anspruch atmet aber noch. Indigniert beobachtet Mrs Dalloway „Mädchen in … durchsichtigen Musselinkleidern“, die nach einer durchtanzten Nacht lächerlich wollige Hunde ausführen“.

Das Leben lieben

Ihre Erscheinung erinnert an einen Eichelhäher. „Lebhaft und flink“ findet ein Nachbar Clarissa Dalloway, eine seit zwanzig Jahren in Westminster ansässige Paraderepräsentantin des Empires in der häuslichen Spielart. Man profitiert un-gemein von den kolonialen Raubzügen, ohne sich selbst der sengenden, den Teint zerstörenden Sonne der Exploitationssphäre auszusetzen. In dieser Perspektive ist London nicht bloß ein sauberer Weltnabel, sondern der schönste Schauplatz des Seins.

Virginia Woolf, „Mrs. Dalloway“, Roman, auf Deutsch von Melanie Walz, Manesse Bibliothek, 24,-

Da wir schon bei der sengenden Sonne sind. Im Rezeptionskarussell taucht oft der Hinweis auf dieses verdeckte Zitat auf.

Clarissa sagt: „Fürchte dich nicht mehr vor der Hitze der Sonne - “Fear no more the heat o’ the sun”. Die Gattin eines Abgeordneten zitiert an dieser Stelle aus Shakespeares um 1610 verfassten, von einer Novelle in Boccaccios „Decamerone“ inspirierten Stück Cymbeline.

“Fear no more the heat o’ the sun,

Nor the furious winter’s rages;

Thou thy worldly task hast done,

Home art gone, and ta’en thy wages:

Golden lads and girls all must,

As chimney-sweepers, come to dust.”

*

“Mrs Dalloway said she would buy the flowers herself.”

„Mrs. Dalloway“, im Original fehlt der Punkt am Ende der Abkürzung, erschien 1925 in der Londoner „Hogarth Press“. Die Romantopografie ist so limitiert wie der zeitliche Spielraum: ein Mittwoch im Juni 1923. Die herrschaftliche Clarissa übernimmt eine Dienstbotenaufgabe. Sie fühlt sich angehoben und erfrischt von der Aussicht, etwas Geringfügiges in das Zentrum ihrer Aufmerksamkeit zu rücken. Das Arrangement der Blumen im Haus zählt selbstverständlich zu den Aufgaben einer Chefin. Die Platzierungen der Bouquets sind Upperclass-An- und Aussagen. Ein Deutungshoheitsanspruch durch die Blume formuliert sich so. Das Heranschaffen der Sträuße bleibt indes eine subalterne Beschäftigung, zu der sich nun Mrs Dalloway selbst ermächtigt.

Bald kennt der Leser das Alter und den Gesundheitszustand von Virginia Woolfs Heldin. Eine Kurzanamnese informiert ihn. Die Autorin lässt offen, ob wir es mit den sogenannten nervösen Leiden zu tun haben, die in der Hochzeit der Psychoanalyse Distinktionsmerkmale besitzen. Wir begegnen einer Schwärmerin über fünfzig, für die Big Ben persönlich schlägt.

Nabel hatten wir schon. Herzkammer geht auch. London als Herzkammer der Welt. Big Ben als Puls des vorläufig letzten weißen Imperiums. Die „vom Alkohol zerrütteten Elendsgestalten … schiere Vogelscheuchen“ auf irgendwelchen Portalstufen, „lieben das Leben“ wie du und Mrs Dalloway. Ich assoziiere mit meiner Formulierung sofort Simon & Garfunkels Mrs Robinson, bei der Dustin Hoffman als Benjamin Braddock zur Die Reifeprüfung antritt.

Eingebetteter Medieninhalt

*

Zum ersten Mal habe ich „Mrs Dalloway“ vor fünfundvierzig Jahren gelesen. Das gehörte zum guten Ton an meiner Schule, jedenfalls wenn man etwas mit den Überfliegerinnen zu tun haben wollten, die ihren Kreis um Iris Leise bildeten. Iris wusste nicht, was ein Hasenbrot ist. Sie wollte Astronautin werden. Jeden Tag förderte sie ihre Gesundheit gymnastisch im Park Wilhelmshöhe. Ihr Vater war der Ben Witsch auf der hessischen Landesebene - ein Mann mit Missionen. Er koordinierte die Beziehungen zu den Palästinenser:innen auch in einer Art Studienwerk, das es israelischen Palästinenser:innen ermöglichte, in Deutschland zu studieren. Iris kannte Jordanien, schwärmte vom Mittleren Osten und der Geschwindigkeit, mit der Araber:innen Deutsch lernen. Von ihr wusste ich, dass der SPD-Sicherheitsdienst immer über den Trainingsstand der RAF-Leute informiert war, die zuerst in Jordanien, dann im Jemen und endlich im Libanon Feuerzucht gelernt hatten. Interessen und Neigungen kreuzten und querten sich. Iris wurde von palästinensischen Studierenden wie eine Prinzessin behandelt. Die Hochachtung genoss sie mit gemischten Gefühlen. Schließlich heiratete sie einen jüdischen New Yorker Psychoanalytiker.

Ich weiß heute nicht mehr, was sie in Clarissa Dalloway sah; wie die Identifikationswege verliefen. Beim Wiederlesen entdecke ich jedenfalls eine Person, mit der sich keine linke Sozialdemokratin im „Mehr-Demokratie-wagen-Geist von Willy Brandt anfreunden könnte.

Im Himmel über London geschieht Sensationelles. Mrs Dalloway vernimmt das „sonderbar hohes Surren eines Flugzeuges“; dem zweifellos schicksten Modernitätszeichen in der Entstehungszeit des Romans.

Aus der Ankündigung

Der Meilenstein der literarischen Moderne in Neuübersetzung von Melanie Walz

Es ist ein besonderer Tag im Leben der zweiundfünfzigjährigen Clarissa Dalloway: Die Gattin eines Parlamentsabgeordneten will am Abend eine ihrer berühmten Upper-class-Partys geben. Der Tag vergeht mit Vorbereitungen, zufälligen Begegnungen mit Jugendfreunden, Konversation, nostalgischen Betrachtungen, Sinneseindrücken beim Flanieren ... Ein besonderer Tag soll es – aus ganz anderen Gründen freilich – auch für Septimus Smith werden. Auch ihn, den Kriegsheimkehrer, beschäftigt die Gegenwärtigkeit des Vergangenen in jedem einzelnen Augenblick.

In permanent sich wandelnden Empfindungen, Visionen und Assoziationen der Figuren entsteht ein faszinierendes Zeit- und Gesellschaftsbild Englands, rhythmisiert vom Stundenschlag des Big Ben. Romantische, nüchterne und satirische Stimmungslagen fließen ineinander, Melancholie und Contenance, tiefgründiger Witz und leise Wehmut durchziehen Virginia Woolfs Meisterwerk moderner Erzählkunst. Im Dezember 1924 notierte sie in ihr Tagebuch: «Ich glaube ganz ehrlich, dass dies der gelungenste meiner Romane ist.»

Zur Autorin

Virginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 in London geboren und wuchs im großbürgerlichen Milieu des viktorianischen Englands auf. Ihr Leben war geprägt von wiederkehrenden psychischen Krisen. 1912 heiratete sie Leonard Woolf. Zusammen gründeten sie 1917 den Verlag "The Hogarth Press". Ihr Haus war eines der Zentren der Künstler und Literaten der Bloomsbury Group. Am 28. März 1941 nahm Virginia Woolf sich, erneut bedroht von einer Verdunkelung ihres Gemüts, das Leben.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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