Zweck der Ehe ist nicht die Zeugung

Philosophie Die Antwort auf alle Unwägbarkeiten lautet Erziehung. Das stellt Michel Foucault beinah am Ende seiner Reise zu den Quellen des Nils der „Sexualität und Wahrheit“

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Februar 1968: Ein Teil der Galerie des berühmten runden Lesesaals im British Museum in London.
Februar 1968: Ein Teil der Galerie des berühmten runden Lesesaals im British Museum in London.

Foto: Peter King/Fox Photos/Getty Images

Es kommt zu Selbstverstümmelungen aus Angst vor der heilsverwehrenden Begierde. „Freiwillig verschnittene“ Jungfrauen konkurrieren mit barbarisch Amputierten. Die Kandidat*innen haben das Ziel verfehlt, ohne Lasterpotenz keine Tugendhaftigkeit. Die Gegensätze werden als Türen ausgewiesen. Natürlich nimmt man die falsche Klinke in die Hand, sobald man das Risiko, von einer Begierde überwältigt zu werden, chirurgisch ausschaltet. Die Versuchung darf ihre Virulenz nicht verlieren.

Die Antwort auf alle Unwägbarkeiten lautet Erziehung. Das stellt Michel Foucault beinah am Ende seiner Reise zu den Quellen des Nils der „Sexualität und Wahrheit“ im vierten, erst jetzt vorliegenden Band fest. Er beschreibt das Projekt des Christentums als eine post-antike Verbesserung des Menschen in Glauben & Verzicht. Foucault zeigt, dass die Ökonomisierung der Sexualität, die sich bis in den Regelvollzug fortsetzt, nicht erst vom Christentum ausgelöst wurde, sondern vorher da war. Die apostolischen Einlassungen basieren auf Milieuübereinkünften in einer nicht christlichen Welt. Am Anfang vom Ende einer langen Strecke des Begreifens zeigt Foucault, dass die Kirchenväter zu Anfang der christlichen Zeitrechnung stoische Leitsätze kopierten. Er durchforstet die Reglements von Taufe, Sünde und Buße in der Gemeinschaft der Gläubigen. „Die Vielseitigkeit und Unbeständigkeit“ des Menschen verlangen Regulation. Über die Vereinfachung gelangt man zur Askese.

Michel Foucault, „Die Geständnisse des Fleisches. Sexualität und Wahrheit“, Band 4., herausgegeben von Frédéric Gros, aus dem Französischen von Andrea Hemminger, Suhrkamp, 557 Seiten, 36,-

Der Asket bringt die Bereitschaft mit, sich gegen seine Natur zu wenden. Wird diese Tendenz dynamisiert von Optimierungserwartungen, heißt Erziehung der Schlüssel zum Erfolg. Im 5. Jahrhundert breitet sich „eine geregelte, reflektierte und kontrollierte Praxis der Askese“ aus. Einen architektonischen Rahmen liefern Klöster. Die Wissensgesellschaft formiert sich. Das erste Informationszeitalter bricht an. Ihrem Wesen nach ist die mit sich selbst befasste Kirche eine Akademie und so auch ein Weltraumzentrum, in dem Himmelfahrten organisiert werden. Was ist erforderlich, dass du mitfliegen darfst?

Drei Begriffe greifen ineinander: Keuschheit – Reinheit des Herzens – geistiger Kampf. Die Keuschheit des Körpers koinzidiert mit der Keuschheit des Geistes. Die Gedanken sind nicht frei. Phantasie ist gefährlich. Die Erziehung bricht auf in der Zucht. Das Gegenstück: Unzucht; ein Wort, das sich lange hielt und bis zuletzt nach Urinstein, Waisenhaus und Jugendstrafvollzug stank.

Plötzlich hört die Askese auf das sichtbarste Merkmal eines Exerzitiums zu sein. Foucault bringt Autoren, die Askese mit körperlicher Tüchtigkeit und der Landesverteidigung in einen Topf werfen. Da geht nichts weiter im Text.

Das Christentum ist ein einziges Ausschlagen von allem, was mit der Versuchung verbunden ist. Da läuft die Quintessenz zusammen. Der Christ muss widerstehen. Das ist sein Beruf, in dem er selbstverständlich scheitert.

Man sieht einen kompliziert abgerichteten Menschen, der seine natürliche Richtung (schon lange) verloren hat und als von einem Gott und seinen Amtsmännern bedrohter Religiöser eine anthropologische Mutation in sich austrägt. Wozu das Fleisch, wenn es falsch ist, ihm nachzugeben?

Was gibt es noch? Mit einer größeren Selbstverständlichkeit als der durchgehaltenen Jungfräulichkeit existiert das Sakrament der Ehe. Ihr widmet sich Foucault im dritten und letzten Teil. Die Ehe entspricht der normalen Verfassung. Abweichungen werden diskutiert und die mönchische Daseinsweise glorifiziert. Die Liebe wird als Wunder angesprochen. Sie ist eine „Kraft, die sich über die Natur erhebt“.

Als Staatsreligion gewinnt das Christentum seine uns bekannte Statur. Es tritt siegreich in einer sozialevolutionären Konkurrenz auf. Es verdrängt. In einer Version wird der Gatte dem Mönch gleichgestellt. Beide sind Männer der Pflicht. Sie stehen vor. Der Gatte steht seiner Familie vor. „Die Familie ist eine Gemeinde im kleinen.“

Foucault deutet den Niedergang des römischen Reiches an. Er hält sich da nicht auf. Ihn beschäftigt die Ungleichheit zwischen Mann und Frau, die Scham, die Grenzen, die einer Frau gesetzt sind, die Spielräume des Mannes, der an den öffentlichen Beratungen teilnimmt.

Das Gefälle ist gottgefällig. Die Herrschaft ist Pflicht. Foucault schildert die männliche Angst aus. Die Frau ist „das wertvollste Gut eines Mannes“; ein Verlust der Frau kann ihn um alles bringen.

Der Punkt verdient die gründlichste Beachtung. Eine gut funktionierende Ehe erscheint als Fort und rückt in den Vergleichen zur Staats- und Kriegskunst auf.

„Eine regelkonforme Ehe“ ist ein Bollwerk. Zu meiner Überraschung lese ich, ihr „Zweck ist nicht die Zeugung“.

Bald mehr.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden