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Bei diesem Artikel handelt es sich um eine Leseprobe aus James Lawrence Powells 2084, in der deutschen Übersetzung erschienen bei Quadriga. Eine Rezension des Romans lesen Sie hier
Der Untergang Rotterdams
Monique van der Poll ist die ehemalige niederländische Umweltministerin. Ich habe mit ihr in ihrem Büro in Maastricht gesprochen.
Wir Niederländer haben ein Sprichwort: »Gott schuf die Welt, aber die Niederländer machten die Niederlande.« Da ein Großteil unseres Landes unter dem Meeresspiegel liegt, mussten wir, bevor wir Städte bauen konnten, Barrieren, Deiche und die Polder bauen, die das Meer fernhalten. Danach wurden wir führend in Kunst, Handel, Seefahrt und mehr. Wir haben immer versucht, gute Weltbürger zu sein. Wir haben pflichtbewusst unsere Treibhausgasemissionen reduziert, aber es hat keinen Unterschied gemacht. Was zählte, war das, was die großen Umweltverschmutzer Amerika, China und Indien machten. Im Jahr 2000 emittierten die Niederlande nur ein halbes Prozent des globalen Kohlendioxidausstoßes. Wir haben unsere Emissionen trotzdem um die Hälfte reduziert, aber im globalen Maßstab war es »een druppel op een gloeiende plaat« – ein Tropfen auf den heißen Stein, wie Sie sagen würden.
Wir Niederländer hatten der Natur und der Nordsee jahrhundertelang getrotzt. Wenn wir zurückweichen mussten, dann sollte der Rest der Welt besser aufpassen. Und wir mussten zurückweichen. Ich spreche zu Ihnen vom Sitz der niederländischen Regierung in Maastricht aus, der ältesten Stadt der Niederlande. Wir haben unsere Hauptstadt 2052 hierher verlegt, nicht wegen des Alters der Stadt und ihrer Rolle in unserer Geschichte, sondern weil Maastricht mit 42 Metern unsere höchstgelegene Stadt ist und daher als letzte überflutet wird.
Selbst unser Name, Niederlande, sagte uns, dass wir mit unseren tief liegenden Regionen in Schwierigkeiten geraten würden, wenn der Meeresspiegel stieg. Und wir sind in Schwierigkeiten. Ein großer Teil der Niederlande liegt seit jeher unterhalb des Meeresspiegels der Nordsee. Zu Beginn dieses Jahrhunderts lagen mehr als zwei Drittel unseres Landes unter dem Meeresspiegel, und zwei Drittel unserer Bevölkerung lebte auf diesem Land. Wir bekämpften das Meer zuerst mit unseren Windmühlen und dann mit elektrischen Pumpen und wunderbaren Ingenieursleistungen wie unseren großen Seetoren und Barrieren. Natürlich wussten wir, dass wir ein gefährliches Spiel spielten, aber wir glaubten, dass die Entschlossenheit und der Einfallsreichtum der Niederländer uns am Ende den Sieg bringen würden. Wir konnten nicht vorhersehen, dass der Rest der Welt das Spiel gegen uns manipulieren würde.
Zwei liegende Eiffeltürme
Wie überall auf der Welt erfolgte auch der Aufbau unserer Nation in dem festen Glauben, dass die Temperaturen, die Flüsse, die Gezeiten, der Meeresspiegel und so weiter sich so verhalten würden, wie sie sich immer verhalten hatten. Das ermöglichte uns, für die hundertjährige Flut, die fünfhundertjährige Flut enzovoort zu planen. Na regen komt zonneschijn, sagen wir – wenn es heute regnet, scheint morgen die Sonne. Mit anderen Worten: Wie schlimm die Dinge auch sein mögen, sie werden sich wieder normalisieren. Aber jetzt ist die alte Normalität verschwunden.
Während das Meer anstieg, senkte sich gleichzeitig das holländische Festland ab, was einen noch höheren Anstieg des Meeresspiegels für die Küsten zur Folge hatte. Unsere schlimmsten Probleme in der Vergangenheit waren, wie zu erwarten, verheerende Überschwemmungen. 1916 gab es eine große, die uns veranlasste, sehr viel Geld für den Hochwasserschutz auszugeben. Im Januar 1953 kam eine noch größere, die diese Schutzvorrichtungen durchbrach und in die niederländische Geschichte einging. Eine Springflut und ein Sturm mit einer Geschwindigkeit von 48 Kilometern pro Stunde erzeugten eine Sturmflut von fast sechs Metern über dem mittleren Hochwasser, die gegen unsere Deiche brandete. Viele von ihnen gaben nach, und fast 2.000 Menschen und 30.000 Tiere starben. Wir mussten 70.000 Menschen evakuieren. Es gibt eine Szene in einer unserer Sprookjes (Legenden): Als der letzte Deich zu brechen drohte, befahl der Bürgermeister einer Stadt einem Schiff, in das Loch im Deich zu fahren und es auf diese Weise zu verstopfen, wodurch drei Millionen Menschen vor massiven Überschwemmungen gerettet wurden. Die Angst vor dieser Überschwemmung führte zu einem fünfzigjährigen Programm zur Stärkung unserer Verteidigung gegen die Nordsee.
Ende des 20. Jahrhunderts war Rotterdam der aktivste Hafen Europas und das Rückgrat der niederländischen Wirtschaft. Es war unsere Pflicht, Rotterdam um jeden Preis zu schützen. Daher begannen wir mit einer neuen Reihe von Schutzmaßnahmen, den sogenannten Deltawerken, zu denen auch unsere größte technische Errungenschaft gehörte, das Maeslantkering, das Sturmflutwehr an der Mündung des Rheins unterhalb von Rotterdam. Es handelte sich um ein Paar riesiger, geschwungener Seetore, montiert auf Kugellagern mit einem Durchmesser von zehn Metern. Jemand sagte, sie sähen aus wie zwei auf der Seite liegende Eiffeltürme.
Seit den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts versiegelten Deiche und Sperren alle Wege, über die die Nordsee in das Rheindelta bei Rotterdam eindringen konnte, bis auf einen: den Schifffahrtskanal Nieuwe Waterweg. Wie der Mississippi Gulf Outlet in New Orleans sollte der Kanal den Schiffen einen schnelleren Weg zu den Docks ermöglichen. Aber wie Sie gesehen haben, bieten solche Kanäle für Gezeiten- und Hurrikanwellen auch eine schnellere Route ins Landesinnere. Die Maeslant-Tore wurden gebaut, um zu verhindern, dass das Wasser den Nieuwe Waterweg hinauf nach Rotterdam fließt. Wir hatten sie im November 2007 getestet und festgestellt, dass sie perfekt funktionierten. Wir glaubten, dass sie uns vor dem Schlimmsten schützen würden, was die Nordsee zu bieten hatte, doch das war die Denkweise des 20. Jahrhunderts. Und wir standen vor Problemen des 21. Jahrhunderts, wie sie die Menschheit noch nie zuvor erlebt hatte.
Natürlich hatten wir die Realität der globalen Erwärmung seit langer Zeit akzeptiert und taten, was wir konnten, um uns anzupassen. Wir wussten, dass die Nordsee weiter steigen würde. Wir brachten unseren Schulkindern sogar bei, mit Kleidung und Schuhen zu schwimmen. Wer sonst machte so etwas? Mit großem Aufwand hatten wir die Maeslant-Tore von 22 auf 25 Meter erhöht, aber das Meer stieg einfach weiter. Was sollten wir tun? Unser Land dem Meer überlassen? Kein Holländer würde das.
Um die Mitte dieses Jahrhunderts hatten die Tore Rotterdam zwar vor etlichen Überschwemmungen geschützt, doch das steigende Wasser hatte die Hafenanlagen beschädigt, eine wesentliche Einnahmequelle für Holland. Wir wussten, dass wir die Tore noch einmal erhöhen mussten, und hatten angefangen zu überlegen, wie wir das bezahlen konnten. Eine Kreditaufnahme kam nicht infrage, da keine Bank und kein internationaler Fonds Kredite für ein solches Projekt vergeben würde.
Dann, im Januar 2052, ein Jahr weniger als ein Jahrhundert nach dem Riesensturm von 1953, trieb ein viel stärkerer Sturm eine dreißig Meter hohe Flut aus Nordseewasser über den erhöhten Meeresspiegel, die durch das abgesunkene Land noch höher ausfiel. Wellen, die erheblich höher waren, als sie irgendein Holländer je gesehen hatte – und das soll etwas heißen –, rollten auf diesem erhöhten Meeresspiegel heran und brandeten gegen die Maeslant-Tore und unsere anderen Verteidigungsanlagen gegen das Meer. Wir schlossen den großen südlichen Barrieredamm und die Maeslant-Tore und beteten. Als das Wasser höher und höher stieg, schwappten einige erste Wellen über die Tore. Das rechte, ins Binnenland weisende Tor begann auf seiner Achse zu wanken. Die Bewegung wurde immer heftiger, bis das Tor schließlich aus seinem Fundament riss und in den Kanal fiel. Nun gab es nichts mehr, was die Nordsee aufhielt, und die Flut jagte wie ein Pfeil den Nieuwe Waterweg hinauf und mitten ins Herz von Rotterdam. Innerhalb von wenigen Stunden stand ganz Rotterdam fünfeinhalb Meter unter Wasser.
In der Überzeugung, dass die Maeslant-Tore nicht versagen könnten, hatten die Rotterdamer Behörden die Stadt nicht evakuiert. Als sie schließlich doch den Befehl gaben, waren viele alte und kranke Menschen, die keine Möglichkeit hatten, herauszukommen, bereits ertrunken. Die Fluten schlossen Tausende auf niedrigen Dachböden und Gefangene in ihren Zellen ein, und viele weitere starben bei dem Versuch, ihre Lieben und Haustiere zu retten.
Die exakte Zahl derer, die bei der großen Rotterdamer Flut von 2052 ertrunken sind, wird nie genau bekannt sein, weil viele Tausende Vermisste nie gefunden wurden. Wir schätzen jedoch, dass ein Drittel der 800.000 Einwohner Rotterdams bei dem Sturm und seinen Auswirkungen umkam, womit es sich um die größte Katastrophe in der niederländischen Geschichte handelt.
Der Wiederaufbau der Maeslant-Tore, die Wiederherstellung der Rotterdamer Hafenanlagen und die Rekonstruktion der zerstörten Stadt hätten weit mehr Geld erfordert, als die gesamten Niederlande damals zur Verfügung hatten. Selbst wenn die Regierung das Geld hätte auftreiben können – Versicherungen, Banken, Bauunternehmen und, was am wichtigsten ist, die Menschen selbst hatten jegliches Vertrauen in eine Küstenstadt wie Rotterdam verloren. Das Meer weiter steigen, und wer konnte schon sagen, ob der nächste Sturm nicht noch heftiger werden würde? Und ob der übernächste Sturm dann nicht noch viel größer werden würde? Ich glaube, wir waren die erste Nation, die formell entschied, dass unsere Bevölkerung ins Landesinnere umsiedeln müsse, weg von der Küste. Der 31. Januar 2052, der Tag des Untergangs von Rotterdam, ist bei den Niederländern ein nationaler Trauertag. Im März desselben Jahres wurde der Sitz der niederländischen Regierung nach Maastricht verlegt.
Aufgrund der Beschaffenheit der Küste und der Art und Weise, wie sich die Sturmfluten näherten, überstanden Amsterdam und andere Küstenstädte den großen Sturm von 2052 mehr oder weniger unversehrt. Es ist jedoch unmöglich, den Schaden zu ermessen, den der Untergang Rotterdams für das Selbstverständnis, das Selbstvertrauen und die Zukunft Amsterdams angerichtet hat. Rotterdam hat gezeigt, dass selbst die größten Werke der niederländischen Ingenieurskunst nicht verhindern konnten, dass eine unserer Großstädte innerhalb weniger Stunden zerstört wurde. Es dauerte Jahre, nicht Stunden, bis Amsterdam schließlich fiel, doch es fiel – Opfer nicht eines großen Sturms, sondern des unermesslichen Vertrauensverlustes in die Überzeugung, die Stadt könnte trotz der künftigen globalen Erwärmung, des Anstiegs des Meeresspiegels und der Stürme bewohnbar bleiben. Vielleicht war das die wesentliche Lektion von Rotterdam: Der Verlust des Vertrauens in die Zukunft einer Stadt kann genauso tödlich sein wie jede destruktive Kraft, ob von Menschenhand geschaffen oder natürlichen Ursprungs.
Die zum Schutz von New York errichteten Bauten hatten im Sturm von 2042 versagt. Die Briten hatten die Thames Barrier gebaut, um das Wasser am Eindringen in die Überschwemmungsgebiete um London herum zu hindern. Die Barriere war in den späten 1970er-Jahren entworfen worden und sollte bis 2030 halten, aber natürlich hatten die Planer die globale Erwärmung nicht berücksichtigt. Sie hätte angepasst werden können, um länger zu halten, doch in den Zwanzigerjahren dieses Jahrhunderts war Großbritannien durch interne Differenzen nahezu gelähmt, und angesichts einer Regierung aus Menschen, die die globale Erwärmung immer noch leugneten, unternahm es – nichts. Die Russen bauten in Sankt Petersburg einen beweglichen Damm, das amerikanische Army Corps of Engineers gab Milliarden für – wie man damals bereits wusste – unzureichende Schutzmaßnahmen in New Orleans aus, andere Nationen starteten ihre eigenen Projekte, enzovoort. Keines dieser Projekte hat überdauert. Es ist unmöglich, eine Barriere zu errichten, die hoch genug ist, um ein Meer aufzuhalten, das jedes Jahr weiter ansteigt, ohne dass ein Ende in Sicht wäre.
Halb untergegangenes Land
Was wurde aus den anderen niederländischen Städten, abgesehen von Rotterdam und Amsterdam?
Betrachten Sie eine Karte aus dem Jahr 2000, und Sie sehen, welche Gebiete und Städte gefährdet waren. Wir haben damals alle Orte, die unter dem Meeresspiegel lagen, aufgegeben, entweder weil sie wiederholt überflutet wurden oder weil wir befürchteten, dass sie eines Tages überflutet werden würden. Den Haag, Haarlem, Leiden, Delft, Harlingen, Groningen und viele andere kleinere Städte und Gemeinden sind heute verschwunden. Wir Niederländer mussten unsere nationale Strategie – vielleicht sogar unsere nationale Identität – aufgeben und das kostbare Land, um das wir jahrhundertelang gerungen haben, an die Nordsee zurückgeben.
Im Jahr 2020 lebten in Holland mehr als 17,5 Millionen Menschen auf rund 41.500 Quadratkilometern, das entspricht einer Bevölkerungsdichte von 420 Menschen pro Quadratkilometer. Das war die höchste in Europa und etwas mehr als ein Drittel der Bevölkerungsdichte von Bangladesch, das damals die höchste Dichte der Welt hatte. Doch wie ich bereits erwähnte, lag über die Hälfte unseres Landes unter dem Meeresspiegel. Nachdem wir nun alle dieses Land aufgeben hatten, verdoppelte sich die Bevölkerungsdichte. Erschwerend kam hinzu, dass die Bevölkerung der Niederlande bis 2050 auf achtzehn Millionen angestiegen war; heute weiß niemand genau, wie hoch sie ist; sagen wir, sie beträgt nach wie vor achtzehn Millionen. Diese Menschen leben auf weniger als der Hälfte des Landes, das wir um die Jahrhundertwende hatten, sodass die heutige Bevölkerungsdichte bei etwa 870 liegt. Und da wir immer mehr Land an das Meer verlieren, wird die Zahl der Menschen, die auf einen Quadratkilometer gepackt sind, zwangsläufig zunehmen, wenn unsere Sterblichkeitsrate nicht weiter steigt, was durchaus möglich ist.
Man muss Niederländer sein, um zu wissen, wie sehr es mich schmerzt, das zu sagen, aber unsere Nation von Seefahrern ist eine Nation von Landmenschen geworden – Landratten, wie man sagt –, zusammengequetscht auf kleinstem Raum. Unsere Wirtschaft ist zusammengebrochen, und kein vernünftiger Mensch sieht, wie die Niederlande als Nation überleben könnten. Wir haben Deutschland und Frankreich bereits Angebote für einen Zusammenschluss unterbreitet. Aber ich erinnere mich an Ihr englisches Sprichwort: »Equals do not merge.« (Gleiche schließen sich nicht zusammen.) Welche Vorteile können wir Niederländer in eine Union einbringen – ein halb ertrunkenes Land? Wir haben immer noch unsere niederländische Identität und unseren Stolz, aber wie lange könnten wir sie bewahren, wenn wir ein Teil Deutschlands oder Frankreichs würden?
Ein fragiler Widerspruch
César García ist der peruanische Umweltminister. Die Wurzeln seiner Familie reichen zurück bis in die Zeit von Pizarro und Atahualpa. Ich interviewte Sr. García in seinem Haus in Pucallpa, östlich der Anden, wohin seine Familie nach dem Untergang Limas zog.
Peru ist ein Land der Extreme, vor allem mit Blick auf seine Topografie und sein Klima. Wären meine Vorfahren für ihr Wasser allein vom Regen abhängig gewesen, hätten sie auf dem trockenen, schmalen, tief liegenden Landstreifen zwischen der Pazifikküste und den Anden niemals überleben können, denn es ist eine der trockensten Gegenden der Erde. Der Grund für diese extreme Trockenheit liegt darin, dass die Westküste Südamerikas im Regenschatten der Anden liegt. Der kalte Humboldtstrom kühlt die feuchte Pazifikluft ab, und während sich die Luft ins Landesinnere bewegt und aufsteigt, kondensiert ihre Feuchtigkeit als Schnee und fällt auf die Andengipfel. Dadurch ist die Küstenebene Perus so trocken, dass sie nur zwei Prozent des Niederschlags unseres Landes erhält. Trotzdem ernährte die Küste um die Jahrhundertwende siebzig Prozent unserer Bevölkerung. Wie haben wir es geschafft, so viele mit so wenig zu versorgen? Wir Peruaner hatten unser eigenes milagro de panes y los peces, wenn ich auf die »wundersame Brotvermehrung« durch Jesus in der Bibel anspielen darf.
Unser größtes Wunder aber war vielleicht unsere Hauptstadt Lima. Als dieses Jahrhundert begann, lebten in Lima 7,3 Millionen Menschen bei nur 2,5 cm Niederschlag pro Jahr – das meiste davon nicht wirklich als Regen, sondern als kühler treibender Nebel. Hätte Lima jeden Tropfen Feuchtigkeit innerhalb seiner Grenzen aufgefangen, wäre jeder Einwohner auf 1.900 Liter pro Jahr gekommen. Vergleichen Sie das mit den täglich mindestens 750 Litern, die der Durchschnittsbürger in einer Ihrer amerikanischen Wüstenstädte damals verbrauchte. Offensichtlich mussten die Limeños ihr Wasser von einem anderen Ort als dem Himmel beziehen. Und um eine so große Stadt zu erhalten, mussten sie sich auch in trockenen Jahren auf dieses Wasser verlassen können. Glücklicherweise verfügten sie über ein zuverlässiges Reservoir: die Gletscher der schneebedeckten Gipfel der Zentralkordillere. Im Winter bauten sich die Gletscher auf, im Sommer sandten sie ihr Schmelzwasser den Rimac hinunter und nach Lima. Im nächsten Jahr wieder das Gleiche. Diese Gletscher hielten Lima am Leben. Ohne sie wäre Lima zu einer Geisterstadt geworden. In einem anderen Zusammenhang pflegen wir immer zu sagen: El que no trabaje que no coma. (Ohne Vorarbeit kein Essen.) Oder, in diesem Fall: kein Eis, kein Wasser. Die Gletscher waren unsere Wasserfabrik.Sämtliche Andenländer – Argentinien, Bolivien, Chile, Kolumbien, Ecuador, Peru und Venezuela – waren in gewissem Umfang auf schmelzende Gletscher als Trinkwasserquelle angewiesen. La Paz und El Alto in Bolivien zum Beispiel erhielten das meiste Wasser vom Chacaltaya-Gletscher.
Einige andere Teile der Welt, wie Ostafrika und Neuguinea, besaßen früher ebenfalls tropische Gletscher. Denken Sie an Hemingways berühmte Kurzgeschichte aus dem 20. Jahrhundert: Schnee auf dem Kilimandscharo. Aber diese Länder hatten mehr Regen als Peru und waren nicht so abhängig vom Schmelzwasser. Ein Gletscher in den Tropen ist per Definition una contradicción frágil.
Warnungen gab es viele
Wenn die Temperatur nur ein wenig ansteigt, beginnen die tropischen Gletscher zu verschwinden. Schon vor Beginn dieses Jahrhunderts hatten die Andengletscher rapide zu schmelzen angefangen. Zwischen 1970 und 2000 waren die Gletscher Perus um fast ein Drittel geschrumpft. Die Gletscher am Cotopaxi in Ecuador schrumpften ebenfalls. Im Jahr 1983 sagte ein Wissenschaftler voraus, dass Kolumbiens El-Cocuy-Gletscher mindestens 300 Jahre halten würde. Eine Wiederholungsstudie im Jahr 2005 senkte diese Prognose auf 25 Jahre, und Anfang der 2030er-Jahre war der El Cocuy verschwunden.
Zwischen 1980 und 2005 schrumpfte der Gletscher auf einem unserer berühmtesten Gipfel, dem 5.250 Meter hohen Pastoruri in unserem schönen Huascarán-Nationalpark, um zwanzig Meter pro Jahr. Am Ende dieses Zeitraums bedeckte der Gletscher gerade noch zweieinhalb Quadratkilometer. Innerhalb eines Jahrzehnts war auch er verschwunden. Die Quelccaya-Eiskappe in der Ostkordillere war früher einer der größten Gletscher der Welt, doch bis zum Jahr 2000 war sie um mehr als einen Kilometer zurückgegangen, und bis zur Mitte des Jahrhunderts war sie verschwunden.
Tropische Gletscher in anderen Teilen der Welt hatten im letzten Jahrhundert ebenfalls zu schmelzen angefangen. Der Kilimandscharo hatte 75 bis 85 Prozent seines Eises verloren, und sieben der achtzehn Gletscher des Mount Kenya waren verschwunden. Auch die tropischen Gletscher Neuguineas waren geschrumpft. Heutzutage gibt es nirgendwo mehr tropische Gletscher.
Wir Peruaner hatten reichlich Warnungen erhalten, doch wir beachteten sie nicht. Als die Temperaturen stiegen, begannen die Gletscher der Zentralkordillere schneller und schneller zu schmelzen und schickten riesige Mengen Schmelzwasser unsere Flüsse hinunter. In den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts waren Überschwemmungen unsere Hauptsorge, nicht Dürre. Es war unmöglich, Einwohner wie Politiker davon zu überzeugen, dass dies das Festmahl vor der kommenden Hungersnot sei – dass das milagro eines Tages enden würde. Unsere Wissenschaftler sagten, dass der Wechsel von zu viel Wasser zu zu wenig in den frühen Vierzigerjahren des Jahrhunderts erfolgen werde. Sie vermochten unsere Anführer jedoch nicht davon zu überzeugen, Stauseen zu bauen, um das Hochwasser zu speichern, und strenge Umweltschutzmaßnahmen einzuführen.
Man könnte vielleicht sagen, dass unsere Andengipfel nicht hoch genug gelegen seien. Keiner in der Zentralkordillere erhebt sich höher als 6.000 Meter, und als das Jahrhundert begann, waren ihre Gletscher alle oberhalb von 5.000 Metern angesiedelt. Die Wissenschaftler sagten uns, dass für jedes Grad Celsius, um das die Temperatur steige, die Schneegrenze in unseren Breitengraden um 149 Meter ansteigen werde. Ein Fünftklässler konnte die Rechnung machen. Wenn die Durchschnittstemperatur im Hochgebirge um etwa drei Grad stieg – und die Wissenschaftler hatten uns gesagt, dass die Temperaturen in den Bergen stärker ansteigen würden als in der Ebene –, dann mussten diese Gletscher alle verschwinden. Ob ihrer Verleugnungshaltung weigerten sich die Limeños, wie die Menschen überall auf der Welt, die Folgen der globalen Erwärmung zu akzeptieren, bis es zu spät war. Als die Gletscher geschmolzen und die Flüsse ausgetrocknet waren, hatten wir keine Reserven mehr.
Die Armen waren die Ersten, die den Durst zu spüren bekamen. Im vergangenen Jahrhundert waren sie zu Millionen nach Lima gezogen. Im Jahr 2050 entvölkerten sich die Stadt und Peru selbst, da die Armen, die wenigen Habseligkeiten auf dem Rücken oder in Karren, die barriades, die Armenviertel, verließen und in das Hochland zurückkehrten, aus dem ihre Vorfahren Generationen zuvor gekommen waren. Die meisten machten sich auf den Weg zur Ostseite der Berge, wo noch genug Regen fiel und von wo aus ich heute zu Ihnen spreche, Señor. Eine scheinbar endlose Menschenkarawane füllte die Straßen von den Küstenstädten hinauf zu den Bergpässen. Viele blieben auf der Strecke.
Ein weiteres Problem war, dass mit dem Rückgang der Flüsse auch die Wasserkraft unserer Dämme abnahm. Wasserkraft hatte früher einen Anteil von achtzig Prozent an der Energie Perus ausgemacht. Wir hatten nur wenige fossile Brennstoffe eingesetzt und keine Möglichkeit, die fehlende Wasserkraft zu ersetzen. Der Mangel an Strom war der Hauptgrund, dass wir die Entsalzung nicht nutzen konnten, obwohl Peru einen guten Zugang zum Meer besaß.
Während die Städte zunehmend unbewohnbar wurden, tauchte die maoistische Organisation Sendero Luminoso wieder auf, die in den ersten Jahren des Jahrhunderts weitgehend verschwunden war. Sie unterstützte terroristische Aktionen, die auf die Destabilisierung der Regierung abzielten, und behauptete mit einigem Recht, dass die Reichen auf Kosten der Armen geheime Wasservorräte erhielten. Immer mehr Arme schlossen sich dem Sendero Luminoso an, ebenso wie Tausende von desertierten Soldaten. Heute hat Peru mehr oder weniger aufgehört, als funktionierender Staat zu existieren, und sich in eine Ansammlung bewaffneter Lager verwandelt, von denen jedes seine lokalen Wasservorräte schützt.
Einige südamerikanische Länder und ihre korrupten Führer hatten die Wasserversorgung und Infrastruktur an private ausländische Unternehmen verkauft, vermeintlich Kapitalismus in seiner besten Form. Doch diese Unternehmen waren im Geschäft, um Profit zu machen. In dem Moment, als das unmöglich wurde, gingen sie einfach fort. In den meisten Fällen hatten sie vorhergesehen, was kommen würde, und so gut wie nichts in Reparatur und Wartung investiert; die Geräte und Einrichtungen, die sie zurückließen, waren für unsere angeschlagenen Regierungen nutzlos.
Das Erschreckendste an Perus Zukunft ist, dass wir nur genug Wasser für etwa ein Drittel der Menschen haben, die im Jahr 2000 hier gelebt haben, und dass dieses Wasser sich in großen Höhen oder auf der Ostseite der Anden befindet. Wir müssen den Küstenstreifen aufgeben und ein neues, hoch gelegenes Staatswesen am Osthang aufbauen, aber woher nehmen wir die Ressourcen, die Führungskräfte, die Energie, die Hoffnung? Wie kann ein Land seine größten Städte und einen großen Teil seines Territoriums einfach aufgeben und sich an einem anderen Ort neu gründen? Wann in der Geschichte ist so etwas je geschehen? Und doch ist es für einige Länder genau das, was el Calentamiento Grande, die Große Erwärmung, bedeutet, wenn sie überleben wollen.
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2084. Eine Zeitreise durch den Klimawandel James Lawrence Powell Axel Merz, Dietmar Schmidt, Rainer Schumacher (Übers.), Quadriga 2020, 256 S., 22 €
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