Wie viele Einwohner hat New York? In Bleeding Edge können es höchstens ein paar Dutzend sein, überwiegend seltsame Gestalten, deren Wege sich dementsprechend ständig mehr oder weniger zufällig in diversen Diners, Delis und Szenekneipen kreuzen. Dann gibt es noch Touristen, die sich nicht Ground Zero anschauen, sondern den Ort, an dem John Lennon erschossen wurde – wir befinden uns also vorerst in der Zeit vor den Anschlägen auf das World Trade Center, dem Ereignis, auf das die Handlung in schnellen Schritten zusteuert.
Dabei werden pynchontypisch zahlreiche Umwege und Seitenstraßen genommen und keine noch so entlegenen Anspielungen und Zitate ausgelassen (die Fangemeinde hat längst mit der Einrichtung eines entsprechenden Wikis begonnen), doch d
s begonnen), doch das Ergebnis wirkt wesentlich weniger labyrinthisch als noch der Koloss Gegen den Tag (2006). Der Roman stellt damit nach Natürliche Mängel von 2009 den zweiten Vertreter von etwas dar, das man in Ermangelung besserer Bezeichnungen als Spätwerk bezeichnen könnte: Bleeding Edge ist derart perfekt zwischen Albernheit und Lakonie, Zynismus und Empathie auskalibriert (und im Ergebnis derart lesbar), dass das Wort „altmeisterlich“ angebracht scheint – vorausgesetzt, man akzeptiert, dass auch Postmodernisten zu alten Meistern werden können.NY? Gentrifizierter Abklatsch!Fern von jeder altherrenhaften Selbstbezüglichkeit bevölkert der inzwischen 76-jährige Pynchon seine Schauplätze mit einer Vielzahl der erwähnten schrägen und meistens sehr jungen Vögel, die den Verfechtern realistischer Milieuschilderung und psychologisch glaubhaft motivierter Handlungen die Zornesröte ins Gesicht treiben dürften. Aber davon abgesehen, dass die film- und hiphopbeflissenen russischen Nachwuchsmafiosi Misha und Grisha und andere etwas knallchargenhafte Figuren beim Lesen sehr viel Freude machen, hat der Roman einen ernsthaften Boden, auf dem solche weniger ernsthaften Blüten nur besonders schön blühen.Dieser Boden ist New York, das im Roman kurz davor ist, auch ohne die Katastrophe von 9/11 zu einem freudlosen, gentrifizierten Abklatsch seiner selbst zu werden – die spannenden Zeiten sind in Manhattan zweifellos vorbei, und Yuppies, Vorstädter und Immobilienhaie haben das Terrain besetzt. Vor dieser Kulisse gerät Maxine Tarnow, abgebrühte Privatdetektivin klassischen Stils, in eine gewaltige Verschwörung um das Startup-Unternehmen „hashslingrz“ und dessen dämonischen Chef Gabriel Ice, der mit islamistischen Terroristen – vielleicht sind es auch gerade antiislamistische Gegenterroristen, so genau weiß man das nicht – unter einer Decke zu stecken scheint.Paranoide Erklärungsansätze werden durch immer noch verstiegenere Szenarien abgelöst. Dabei tauchen in der Romanhandlung durchaus Indizien dafür auf, dass der Anschlag ein „Inside Job“ ist – kurz irritiert die Nähe zu den realen Verschwörungstheoretikern des „9/11 Truth Movement“, bevor der seit 50 Jahren in diesem Metier arbeitende Autor die Kompliziertheit erneut steigert und die Vereinfacher aller Art hinter sich lässt.Verrückte Leute, seltsamer SexAuf der Suche nach der natürlich niemals auch nur ansatzweise greifbaren Wahrheit trifft Maxine auf altlinke Blogger, fußfetischistische Nerds und dauerbekiffte Programmierer und verbringt mehr Zeit, als es für sie selbst und einen stringenten Handlungsverlauf gut wäre, in der Computersimulation DeepArcher, einer Art von metaphysischem Second Life.Es ist beeindruckend, mit welcher Liebe zum Detail sich Pynchon dem Idealismus, aber auch der Verblendetheit einer 2001 bereits im Niedergang begriffenen IT-Kultur widmet: Völlig ohne Häme beschreibt er deren Ambitionen, mithilfe des Internets ein neues Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu schaffen, während der Geist des Kapitalismus und der des Überwachungsstaats längst dabei sind, auch dieses Beutestück zu zerlegen. Letzten Endes müssen auch der Enthusiasmus und die Liberalität der Hacker vor dem übermächtigen Komplex aus Gier, Paranoia und Allmachtsphantasien kapitulieren, der sich im Roman zahlreicher Handlanger bedienen kann. Niemand bleibt am Ende unbefleckt zurück, am allerwenigsten Maxine, die sich ausgerechnet auf einen der übelsten dieser Handlanger einlässt, sich das selbst nicht erklären kann und feststellen muss, dass ihre gut trainierten, aufgeklärt-linksliberalen Reflexe angesichts der grundlegenden Verdorbenheit aller Dinge versagen.Ist das also ein pessimistischer Roman? Erstaunlicherweise keineswegs. Obwohl Pynchon das Bild einer von Kommerzialisierung und „tiefem Staat“ zugrunde gerichteten Stadt zeichnet, die für keinen ihrer Bewohner mehr zu bieten hat als nostalgische Erinnerungen an „Old New York“ (und auch diese längst kommerziell ausgeschlachtet hat), machen die sympathischeren seiner Charaktere einfach weiter. Was sollen sie auch tun – die Kinder müssen zur Schule gebracht, die Miete gezahlt werden, Weltverschwörung hin oder her. Für Maxine zeichnet sich am Ende immerhin eine Versöhnung mit ihrem problematischen Ex-Mann ab, einfach, indem sich beide ein bisschen zusammenreißen.Dass Bleeding Edge trotzdem nicht auf dem Akkord einer Beschwörung von Familienwerten endet, versteht sich von selbst: Dazu sind die Figuren zu verrückt, die eingestreuten Songs zu absurd und der Sex zu seltsam. Die versöhnlichen Töne, die sich Pynchon zum Schluss gestattet, sind nicht dadurch motiviert, dass die Welt auf einmal weniger schlimm oder verwirrend geworden ist: „You want it to be uncomplicated, but it’s not“, muss sich Maxine noch kurz vor Schluss von einem ihrer halbseidenen Kontakte anhören. Recht hat er.Nun kann es laut Pynchon nur noch darum gehen, sich in dieser komplizierten Welt möglichst wenige Illusionen zu machen und trotzdem möglichst viel Widerspruchsgeist zu zeigen. Bei der Frequenz, mit der Maxine sicherlich auch nach Romanende schräge Vögel in irgendwelchen Diners und Delis trifft, könnte das sogar Spaß machen.