In einer der Kurzgeschichten, Birthday Boy, liest eine Hauptfigur, Ethel, ihrem im Krankenhaus liegenden Ehemann Ray aus einem Roman vor, der ihr von einer Freundin empfohlen wurde. In diesem zweifelhaften Werk mit dem Titel Heaven I’m Yours ist von einem jung-dynamisch-erfolgreichen Herrn mit Chamoislederhandschuhen die Rede, der mit „voller, entschiedener Stimme“ dem Taxifahrer Anweisungen gibt.
Mehr erfahren wir nicht, aber schon das reicht aus, um Rays Missfallen zu erregen: Der Kontrast zwischen der trivialen Inszenierung von Erfolg und Männlichkeit, die der (fiktive) Roman bietet, und der eigenen Schwäche ist für ihn unerträglich, was er – immerhin darin ganz Mann – an seiner Frau auslässt. Die Szene ist in zweifacher Weise typisch für die Gesamtheit der derzeit im Netz kursierenden und zwischen 1942 und 1947 entstandenen Erzählungen: Salingers Hauptfiguren sind alle kränklich, und sie beschäftigen sich alle in irgendeiner Weise mit Literatur. Letzteres gibt dem noch relativ unerfahrenen Autor die Möglichkeit, in der Auseinandersetzung mit literarischen Pappkameraden in deutlicher, manchmal überdeutlicher Weise seine Poetik zu entwickeln: Gegen den schablonenhaften Einstieg von Heaven I’m Yours erscheint die Charakterdarstellung in Birthday Boy umso differenzierter und feinfühliger.
Manuskriptvernichtung
In der längsten und gelungensten der drei Erzählungen, The Ocean Full Of Bowling Balls, ist es nicht anders: Hier ist es der Erzähler selbst, ein aufstrebender Schriftsteller, der eine recht platt konstruierte Storyidee vorstellt, um daraufhin von seinem kleinen, aber überaus belesenen Bruder Kenneth kritisiert zu werden. Anstatt die Geschichte einer Bowlingkugel, die zum Symbol einer unglücklichen Ehe wird, weiterzuschreiben, vernichtet der Schriftsteller das Manuskript und macht mit dem Bruder einen Ausflug: Im Cabrio geht es bei strahlendem Sonnenschein und mit durchgetretenem Gaspedal ans Meer.
Dabei tritt Kenneths fragiler Gesundheitszustand ebenso zutage wie seine gesellschaftliche Unangepasstheit, und zum Schluss taucht die Bowlingkugel wieder auf: Der Erzähler sieht sie in der Struktur des aufgewühlten Meeres, in dem der Bruder badet und stirbt.
Auch hier wird also schlechte Literatur von der Kompliziertheit des Lebens (und des Todes) abgelöst, was dann – so das Kalkül des Autors, das hier aufgeht – gute Literatur ergibt. Die Erzählung ist allerdings nicht frei von Sentimentalität und hat auch nicht die Sorgfalt der Konstruktion, die wir von einer amerikanischen Short Story erwarten. Birthday Boy, die Geschichte von Ethel und Ray, ist eine solche klassische Story: Gerade durch die Einheit von Zeit und Ort und die scheinbare Geringfügigkeit der Handlung entsteht Intensität, wobei leider aber auch die Ehrfurcht des jungen Autors vor den Regeln spürbar wird. The Ocean Full Of Bowling Balls hingegen ist formal so selbstbewusst, wie es den in Maßen unkonventionellen Figuren der Erzählung entspricht, und nimmt sich die Freiheit, zwischen Zeit- und Handlungsebenen zu springen. Salingers Sensibilität und seine Solidarität für abweichende jugendliche Lebensentwürfe, die den 1951 erschienenen Roman Fänger im Roggen auszeichnen, sind hier bereits spürbar. Der herzkranke und herzensgute Kenneth Caulfield, der als Allie in diesem Roman wieder auftaucht, ist schon in seiner früheren Inkarnation eine vollwertige und vielschichtige literarische Figur.
Das lässt sich von Paula, der Titelheldin der dritten Erzählung, nicht behaupten. Diese gutbürgerliche Ehefrau, die eine angebliche Schwangerschaft zum Anlass nimmt, sich in ihr Schlafzimmer und einen sich immer mehr entwickelnden Wahnsinn einzuschließen, kann weder unser Mitgefühl noch unser Interesse erwecken. Zwar ist auch Paulas Verweigerung gegenüber dem Familien- und Erwerbsleben im Grunde ein typisches Salinger-Thema, aber er interessiert sich hier offenbar kaum für seine Figuren. Auch in diesem Text wird aber ausgiebig und auf bezeichnende Weise vorgelesen: Paula trägt ihrem Ehemann Dickens’ David Copperfield vor, lässt aber alle Stellen weg, die sich auf Davids gewalttätigen Stiefvater und dessen Schwester beziehen. Ihre Weigerung, diese Figuren zur Kenntnis zu nehmen, nimmt bereits die weiter gehende Realitätsverweigerung voraus, die folgen wird. Insgesamt wäre dieser kurze Ausflug Salingers ins Genre der Groteske aber wohl besser ungeleakt geblieben.
Ohnehin ist die Art der Publikation womöglich interessanter als das Publizierte selbst. Offenbar stammen die jetzt aufgetauchten Texte, deren Typoskripte in verschiedenen amerikanischen Universitätsbibliotheken der Forschung zugänglich sind, aus einem Raubdruck von 1999, der kürzlich bei Ebay versteigert, gescannt und ins Netz gestellt wurde.
Rigide Kontrolle
Durch die unautorisierte Verbreitung wird zum einen die Veröffentlichungspolitik des 2010 verstorbenen, fanatisch geheimniskrämerischen Autors durchkreuzt. Zum anderen stellen sich die auf diversen Tauschbörsen verfügbaren Dokumente ungewollt als böse Parodie auf die philologischen Veröffentlichungsformen dar, die seit dem 19. Jahrhundert zum Standard im Umgang mit lebenden und toten Autoren geworden sind: In einer Vorbemerkung wird bekannt gegeben, dass der im Originalzustand „nicht lesbare“ Text (insbesondere bei Paula handelt es sich offenbar eher um einen Entwurf als um eine fertige Story) vielfach bearbeitet worden sei. Welche Veränderungen vorgenommen wurden und wer der Herausgeber ist, der den Erzählungen außerdem aus unklaren Gründen noch einen völlig uninteressanten Salinger-Brief beigegeben hat, erfahren wir nicht: Er oder sie begnügt sich am Ende seines Vorworts mit dem lakonischen Hinweis, dass andere Bearbeiter durchaus zu abweichenden Einschätzungen von Salingers Intentionen – und damit zu einem abweichenden Text – hätten kommen können.
Dass die rigide Kontrolle eines Autors über seine Texte dazu führt, dass diese, weil legale Buchausgaben unmöglich sind, jetzt in zweifelhafter und kaum nachprüfbarer Form dem Internet anheimgegeben werden, ist eine Ironie, die man genießen sollte, bevor irgendwann die historisch-kritische Werkausgabe erscheint. Das allerdings kann noch etwas dauern: Salingers Testament soll sehr konkrete Anweisungen für den Umgang mit seinen zahlreichen unveröffentlichten Schriften enthalten, nach denen The Ocean Full Of Bowling Balls erst 50 Jahre nach seinem Tod (also 2060), die anderen beiden Erzählungen hingegen gar nicht publiziert werden dürften. Ob die Pietät von Verlagen und Erben so weit reicht, wird sich zeigen.
Jan Behrs schrieb im Freitag zuletzt über den neuen Roman von Thomas Pynchon
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