200 Meter

Strand Jan Jedlička lässt uns in einem engen Korridor Weite erkennen. Was eine Prophezeiung

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Jan Jedlička: 200m
Jan Jedlička: 200m

Foto: 2018 Jan Jedlička (published by Steidl 2020)

Wenn etwas in den letzten Jahrzehnten klar war, dann das man alles anreisen kann. Wenn auch nicht alles erreichen, so doch wenigstens überall hinreisen. Der Tourismus infizierte jeden und hatte damit mehr Menschen erreicht als Corona (hoffentlich) je wird. Alles wurde niedergetrampelt, das sinnliche zu einer Erinnerung in einem Urlaub, der noch nichtmal ganz vorbei war. Während des Urlaubs lebte der kontemplative Eindruck von Konjunktiven: wenn der Strand leerer wäre, wenn das Café ruhiger, usw. Nun ist alles ruhig, das Wasser in Venedig klar, und es nicht vor sechs Uhr am Morgen. Das wirft die Frage der Konservierung einer Vorstellung auf, die es erst nicht mehr gab, jetzt wiederum zuhauf, aber man kann nicht mehr hin.

Heimeritis

Der Schriftsteller Andreas Maier monierte in einem Interview in unserer Zeitung, das man die typischen Urlaubsgebiete nicht mehr anreisen könne, alles sei überlaufen. Und er hat damit recht. Wo Flüge so günstig waren, dass das Mineralwasser im Hotel als teuer galt, bahnte einem Herdentrieb den Weg, der alles was erreichbar war, in eine Unerreichbarkeit des Erlebnisses wandelte. Doch das erlebten die Menschen nicht. Was sie hingegen nun zuhauf erleben ist, dass die räumliche Nichterreichbarkeit einen schweren Phantomschmerz auslöst. Die "Heimeritis". Wie der Autor in seinem Artikel Eintritt frei schon bemerkte, wird dies viele Menschen, die im Spannungsfeld von Leistung auf der Arbeit abgewechselt mit Leistung im Urlaub an fernen Orten lebten, arg zusetzen. Ändern kann man daran gelinde gesagt aktuell nichts, denn der Virus kennt weder Feiertage (Angela Merkel), noch Sehnsüchte der Menschen. Er wütet, er tötet. Klassenunabhängig. So zeigt auch Donald Trump seine vulnerable Seite, wenn er konsterniert twittert, ein Freund von ihm sei plötzlich beatmungspflichtig und dann tot gewesen. Vielleicht erwischt es diesen Mann genau an dem Punkt, den er noch mehr fürchtet, als die Bedeutungslosigkeit: Auch er, sein Umfeld, sind vergänglich. Die nackte Angst vor dem Abgrund, den man nicht wegkaufen oder weghalten lassen kann, wird auf einmal so deutlich. Kein Verdrängungsmechanismus kann dagegen angehen.

Jan Jedlička hat sich diese Begrenzung des Movements in seinem aktuell beim Steidl Verlag erschienenen Werk 200m schon selbst auferlegt: Seine Motive vom Strand sind auf einen Bereich von 200 Metern begrenzt. Ergeben aber eine hinreißende 360-Grad-Perspektive. Die Blicke vom Meer Richtung Land sind dabei weniger spannend als die Blicke zum Meer hin. Was hat das Meer bloß eine Anziehung für uns! Ähnlich wie in französischen Cafés, in denen der Stuhl mit dem Rücken zur Straße gar nicht existent ist. Es gibt dort keinen Bedarf. So verhält es sich auch mit dem abgewandten Meerblick.

Vielleicht ist das Konzentrieren auf die Begrenzung und das Erkennen von Weiten aber auch die Lösung, den Zustand der Begrenzung besser auszuhalten. Auch auf engerem Raum, bleibt einem in der Regel der Rundumblick. Und den sollte man walten lassen. Und wenn einem das Meer fehlt, dann kann dieses gefühlvolle Buch der Melange aus Land und Wasser zusammen mit den ölbasierten Lacken der Göttinger Druckerei helfen, ein wenig im Kopf zu reisen.

Tritone

Die vorliegenden Aufnahmen entstanden in der Nähe von Grosseto (Italien) zwischen 2008 und 2015 zu allen Jahreszeiten. Im gleißenden Sommer und im zugigen Winter auf diesem begrenzten Terrain spielen Wind, Wolken, Wasser und die menschliche Infrastruktur ihre Spuren in den im Tritone-Druckverfahren hergestellten Bildern. Das Lichtspiel von Sonne und Wolken bildet sich perfekt ab, es ist eine ergreifende Atmosphäre, die der Fotograf dort schafft. Und das wichtigste: sie enthält eine Sprache, die man wiedererkennt. Seinen Blick für sein Umfeld, und sei es auch noch so begrenzt.

Allen Lesenden kann man nur raten: Gute Reise im Kopf!

Jan Jedlička: 200m. Steidl Verlag 2020. 48€

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