Allein zu Haus

Gesellschaft Weihnachten steht vor der Tür. Für viele Menschen ist das eine besonders schwere Zeit voller Einsamkeit
Was hinter der Fassade geschieht, daran denken wir allzu oft nicht
Was hinter der Fassade geschieht, daran denken wir allzu oft nicht

Foto: imago/Müller-Stauffenberg

Vielleicht muss zu Weihnachten und Silvester alles schon deshalb so hell blinken, weil für viele Menschen ihr seelischer Gemütszustand auf ein sehr dunkles Jahrestief hinsteuert. Entweder sie müssen durch die Mühle zwischenmenschlicher Zwangsgemeinschaft oder sie bleiben gleich ganz allein. Beides kann mit einem dominierenden Ohnmachtsgefühl der Einsamkeit einhergehen. Die gesellschaftlichen Gegebenheiten scheinen zu verlangen, an diesen Tagen zum Jahresende etwas zu tun zu haben. Die Frage „Und was machst du an Weihnachten?“, ist mit der impliziten Erwartung gekoppelt, doch etwas Gemeinschaftliches vorzuhaben.

Doch wo bleiben die Menschen, die an Weihnachten alleine sind, die in keine Arbeit oder wenigstens zu ungeliebten Verwandten flüchten können? „Es lebe das Valley!“, könnte man ausrufen, zumindest bei der Idee von Christian Fein. Die Digitalisierung sorgt dafür, dass Menschen aus dem Schatten ihrer Einsamkeit hervortreten können. Mit seiner Initiative auf Facebook und Twitter unter dem Hashtag #Keinerbleibtallein will er dafür sorgen, dass Menschen, die eben keinen Anschluss finden, sich ebensolchen suchen können. In Deutschland, Österreich, der Schweiz und Luxemburg können sich Menschen melden, die Gemeinschaft suchen oder die Gemeinschaft bieten wollen. Der gemeinnützige Verein finanziert sich aus Spenden, die Vermittlung ist ohne Mitgliedschaft oder Kosten verbunden. Er selbst beschreibt #Keinerbleibtallein als „eines der größten digitalen Projekte gegen Einsamkeit“.

"Einsamkeit ist ein subjektives Gefühl, das von tatsächlichen Umständen oder durch Erfahrung in der Kindheit ausgelöst werden könne", sagt Dr. Eva Wlodarek. Die Psychotherapeutin promovierte über Glücklichsein und legte das Buch "Einsam. Vom mutigen Umgang mit einem schmerzhaften Gefühl" vor. Für Einsamkeit gibt es keinen expliziten Messwert. Es ist ein Gefühlszustand, den man nicht genau erfassen kann. Die Empfindung von Einsamkeit widerfährt jedem Menschen. Doch es ist ein Unterschied, ob dieses Empfinden anlassbezogen von kurzer Dauer ist oder zu einem Lebenszustand wird.

Maximilian Dorner ist einsam. Der Münchner Schriftsteller beschreibt in seinem Buch „Einsam, na und?“, was es für ihn bedeutet, sich einsam zu fühlen und die Hürden zu überwinden, Anschluss zu finden. Seine Texte deklinieren viele Lebensbereiche auf Einsamkeit durch. „Welche Energie wir aufwenden, um uns nicht eingestehen zu müssen, einsam zu sein, ist enorm“, resümiert er seine Überlegungen, die ins Buch mündeten. „Den Satz, dass man einsam sei, sage keiner in voller Lautstärke“, das Tabu sei eben da. Wir würden so viele Sachen nur deshalb tun, damit sie uns in der Welt hielten. Sei es Konsum oder auch das Wahrnehmen von Likes in den sozialen Medien. Und was ist die Lösung? Da kennt Dorner eine prägnante Formel, nämlich das Gefühl auszuhalten lernen. Dies habe ihm geholfen, zu erkennen, dass er nicht der Partylöwe sei, der im Mittelpunkt steht. Dorner betont aber, kein Experte zu sein. Er sei Schriftsteller, der versuche auf die Probleme zu schauen und diese in Worte zu fassen. Für Dorner ist Einsamkeit aber nicht nur aus seinem Wesen heraus erklärbar, sondern auch aufgrund seiner Gesundheit. Der Schriftsteller leidet an Multipler Sklerose. Nach anfänglicher Benutzung des Gehstocks, sitzt er nun im Rollstuhl. „Auf einer Stehparty ist man da allein schon durch die Sitzposition einsam“. Damit ist er nicht allein. Auch Wolfgang Schäuble resignierte schon und beklagte, es sei nicht schön, am Buffet von oben vollgekrümelt zu werden.

Niemand gibt Einsamkeit gerne zu

Als ehemals hauptberuflicher Sanitäter habe ich selbst Erfahrungen mit einsamen Menschen gemacht.* Das Blaulicht zuckt durch die dunkle Straße. Der Rettungswagen findet die Wohnung in einem Einfamilienhaus einer Großstadt, die Sanitäter kennen die 68-jährige Dame nur zu gut. Regelmäßig ruft sie den Notruf, weil ihr Blutdruck in ungeahnte Höhen schießt. Bei Eintreffen des Rettungsdienstes geschieht dennoch immer das gleiche. Der Blutdruck normalisiert sich in kurzer Zeit, aus einer verstörten Patientin wird eine aufgeweckte Frau, die den Sanitätern Kuchen backen möchte. Das System der Notfallhilfe kommt hierbei an seine Grenzen. Immer öfter rufen Menschen in ihrer subjektiven Not den Rettungsdienst, doch viel öfter bräuchten sie Hilfe ganz anderer Art.

„Es sieht ganz so aus, als würde diese Frau psychosomatisch reagieren“, meint Psychologin Wlodarek. Der Blutdruck sei hier das Ventil für einen Hilferuf. Einsamkeit ist ein Tabuthema. Niemand gibt gerne zu, dass er einsam ist, oder sich einsam fühlt. Denn beides kann der Fall sein. Nach einem Umzug in eine fremde Stadt, können Menschen in ein tiefes Loch fallen, weil ihnen ihr Umfeld fehlt, einem neuen Freundeskreis sind sie nur widerwillig aufgeschlossen. „Der Weg aus der Einsamkeit bedeutet zunächst ein Wagnis. Man muss raus aus der Komfortzone der Wohnung und des ständigen Grübelns.“

Die Patientin wird, wie so oft, mit dem Rettungswagen in eine Klinik gebracht. Der Befund in der Notaufnahme ist, wie bisher immer, unauffällig. Die Patientin gerät in einen immer wiederkehrenden Loop im Versorgungssystem: sie wird immer und immer wieder erstversorgt, aber an den Symptomen ändert das derweil nichts. Aus dieser Versorgungsspirale herauszukommen ist einerseits schwer, andererseits gibt es zurzeit in Deutschland kein flächendeckend definiertes Verfahren, wie mit diesen Patienten routiniert umzugehen ist. Es mangelt an Optionen. Der Pflegedienst wird nicht primär für seelische Betreuung bezahlt, sondern für minutengenaue Abarbeitung von Versorgungsleistungen. Die seelische Betreuung muss oft zwischen Tür und Angel und somit en passent geschehen. Aber hierin beginnt wieder das Problem, da die Patienten körperlich eben keinerlei auslösende Faktoren für ihre Beschwerden haben. Zumindest noch nicht.

Das komplexere Problem ist die Einsamkeit inmitten von Menschen. „Was hast du nur?“, ist oft die unverstandene Reaktionsformel der Familien, wenn Menschen offenbaren, sich in der Gruppe einsam zu fühlen. Es fehlt an Verständnis, bisweilen sogar der Fähigkeit, sich so etwas überhaupt vorzustellen. Wie im Fall der jungen alleinerziehenden Mutter mit scheinbar intakter Familie.

Sie ist Mitte zwanzig, Mutter und kennt schon das Prozedere, sie hat es nur allzu oft in den letzten Monaten erlebt. Die junge Mutter wohnt in einem Stadtteil mit sozialen Nöten. Ihre Mutter ist nur unwesentlich älter, Raucherin und vom Leben gezeichnet. Ihr ehemaliger Lebensgefährte wohnt noch mit in der Wohnung. Der Nacken ist hochrasiert, er trägt ein Muskelshirt, die Oberarme sind breit. Die Familie hat den Rettungsdienst gerufen. Unklare Schmerzen und Luftnot habe sie mal wieder, die bei Eintreffen des Rettungsdienstes vollständig abklingen. Die klinische Abklärung der spontan auftretenden Symptome ist mehrfach erfolgt, auch jetzt ergeben sich zunächst keine Anhaltspunkte für eine körperliche Erkrankung. Den Sanitätern fällt dennoch etwas auf, was zumindest begünstigend sein kann. Denn statt einer familiären Zuwendung, liegt schlechte Stimmung in der Luft. Mutter und Ex-Freund sind genervt von dem sich immer wiederholenden Szenario. Der Stimmung ist aufgeladen, nahezu aggressiv. Komplexere Nachfragen, wann die Symptome aufträten, werden von den Angehörigen barsch abgewunken. Die junge Frau schweigt nur noch. Sie ist matt und kraftlos, die Augen rot verweint. Es kommt beim Rettungsteam der Gedanke auf, dass dies hier weniger eine Familie als eine Zwangsgemeinschaft ist. Das Kind schreit. Konflikte zu besprechen endet in sprachlosem Vorwurf.

Beide Familienmitglieder würden ihr vorwerfen, sich mit ihrem Verhalten nur in den Vordergrund spielen zu wollen, erklärt die Patientin später. Die Frau ist verzweifelt und wenngleich sie faktisch nicht einsam ist, da sie ein Umfeld hat, ist sie dennoch ganz allein. Ein Gutes hat die Ablehnung durch die Familie dennoch. Sie wollen erst gar nicht mehr mit ins Krankenhaus mitfahren. Einer müsse sich schließlich um das Kind kümmern, zischt die Mutter mehr zu ihrer Tochter, als zu den Sanitätern. Das Gespräch im Rettungswagen ergibt die Möglichkeit, mit der eingeschüchterten Frau offener zu sprechen. Die Fahrt geht nun zwar in die Notaufnahme, aber mit Weiterbehandlung durch einen Psychologen. Die Erkenntnis in diesem Falle ist, dass vermeintlich umsorgte Menschen in einem eiskalten Gefängnis des unfreiwillig gewordenen Miteinanders stecken können. Die Rettung daraus, bleibt fraglich.

Sind Menschen einsamer als früher? Dr. Wlodarek kann nur mutmaßen: „Einsamkeit gab es mit Sicherheit auch früher, sie hatte nur andere Gründe. Worunter heute Singles leiden, waren damals etwa unglückliche Ehen, die nicht aufgelöst werden konnten.“ Das Augenmerk auf die Psyche ist im Trend, aber mit deutlichem Zeitverzug. Die Vermutung liegt nahe, dass die Digitalisierung auch das erst wirklich in größeren Kreisen sichtbar macht.

Fassaden mit Rissen

Die Sonne brennt, es ist eine Vorstadt, aber eine sehr exquisite, in die der Rettungswagen gerufen wird. Das freistehende Haus mit großem Garten und tiefen Fenstern ist der Traum vieler Bausparer. Begrüßt wird das Rettungsteam durch eine resolute Frau mit Fönwelle in den Fünfzigern, flankiert von ihrer Tochter, die, noch minderjährig, schwer von Magersucht gezeichnet ist. In der Küche seien beide am Ausprobieren von Gerichten für die Tochter gewesen, als ihr Mann sich einfach im Keller eingeschlossen habe und nun schweige. Daher auch die Alarmmeldung: „Bewusstlose Person“. Das trifft dann nicht so ganz zu. Im Keller angekommen ist die Tür verschlossen, doch antwortet der Ehemann den Sanitätern prompt und lautstark. Man solle verschwinden, herrscht er durch die Tür. Was man denn überhaupt von ihm wolle, frage er sich. Sie könne sich das nicht erklären, warum ihr Mann so „freidrehe“, sie seien eine glückliche Familie. Das Rettungsteam tauscht irritierte Blicke aus. Es ist fast ein Derrick-Moment. Edle Vorstadt, keine finanziellen Probleme. Aber die goldene Fassade ist voller tiefer Risse.

Der Mann spezifiziert seine Wut, indem er nun brüllt, nur seine Frau solle gefälligst verschwinden, gefolgt von wüsten Verwünschungen. Krank sei er nicht, versichert der völlig orientierte Mann Mitte fünfzig in leitender Position in einem Finanzunternehmen. Aber seine Frau, er könne sie nicht mehr ertragen. Sie hätten sich auseinandergelebt, sich nichts mehr zu sagen. Der Einsatz endet daher schnell, da der Mann glaubhaft versichern kann, kein Anlass für eine Notfallbehandlung zu sein. Als das Rettungsteam das gusseiserne Tor hinter sich schließt, legt sich wieder eine beklemmende Stille über das Anwesen.

Angehörige gesucht

Der Mann war allein. Ob er einsam war, keiner kann ihn mehr fragen: Er ist tot. Der Hausmeister hat sofort reagiert, als das „Essen auf Rädern“ mittags unberührt blieb. Das Rettungsteam und die Polizei kommen routinemäßig. Ein EKG schreiben, Leichenschein, Abklärung, ob ein Fremdeinwirken vorliegt. Die Ein-Zimmer-Wohnung erscheint in tieforange. Es ist Spätherbst, die Sonne steht nachmittags schon tief und durchdringt die orangenen Gardinen aus den Siebzigern, reales Vintage. Der Mann, knapp über siebzig, liegt friedlich in seinem Bett. Die Wohnung ist penibel aufgeräumt. Wer war der Mann, fragt man sich reflexhaft. Bilder sind selten, andere Zeiten. Kein iPhone mit 15.000 Schnappschüssen – nur aus dem letzten Jahr. Das Bild im Personalausweis lässt zumindest erahnen, dass dieser Mensch mal ein fitter Mensch war. Mit einem Lächeln, mit Beziehungen. Aber nun? Angehörige gäbe es wohl nicht, verlautbart der Hausmeister. Es wird wieder eine schwierige Suche, die oft mit einem Aushang am Amtsgericht endet: Angehörige gesucht. Ob der Mann einsam war, ist nicht mehr zu klären, aber auch in Gemeinschaft kann ungeplante Einsamkeit gefürchtet sein. Als während des Einsatzes ein Polizist nur kurz mit dem Toten allein sein müsste, ruft der sonst sehr gefestigte Gesetzeshüter: Himmel, ihr könnt mich doch nicht mit dem Toten alleinlassen! Einsamkeit, ein Indikator für lebendig sein.

„Es ist belegt, dass Einsamkeit Menschen signifikant schadet“, sagt die Psychotherapeutin Wlodarek. In ihrem Buch analysiert sie die Gründe für eine Einsamkeit von Erwachsenen. Häufig läge dieses Empfinden mit Traumata in der Kindheit zusammen. Zum Beispiel kindliche Überforderung, Trauerfälle und seelische Grausamkeiten können das Fundament der späteren Einsamkeit besiegeln. „Namenlose Depression“, nennt es der Psychoanalytiker Heinz Kohut. Namenslos, weil die Phase des Erleidens kein Erinnern und damit oft auch kein kausales Gefühl mehr ergibt. Generell steht die Frage noch offen, was zuerst auftritt. Die Depression und dann die Einsamkeit, oder umgekehrt.

Alleinsein muss nicht immer Einsamkeit bedeuten

Ist Einsamkeit eine Folge des demografischen Wandels? „Nein, ich kenne genügend ältere Menschen, die weiterhin sehr eingebunden sind in das Leben. Sie sind „generativ“, können sich also auch mit anderen Generationen sehr gut verständigen. Kritisch ist es allerdings, wenn ältere Menschen durch Krankheit und Selbstbezogenheit isoliert sind“, resümiert Wlodarek. Aber Alleinsein muss nicht immer Einsamkeit bedeuten. Es gäbe eben auch Einzelgänger, die damit gut umgingen und das Alleinsein sogar bräuchten.

Professor Manfred Spitzer führt die Spitze der Einsamkeitsthematisierer an. Er wettert, Einsamkeit töte. Aber eben auch die digitale Entwicklung verdammt er. Dass nun gerade ein Hashtag wie #Keinerbleibtallein dafür sorgen kann, dass Menschen aus der digitalen Welt in der realen Welt zusammenfinden, mag belegen, dass auch professorale Prophezeiungen nicht immer in Gänze stimmen müssen.

Auf einmal reden alle über Einsamkeit. Doch das ist keine Lösung. Nur weil man eine Speisekarte liest, ist man noch lange nicht satt.

Hinweis

Sind Sie einsam, depressiv oder haben Suizidgedanken?

Bitte kontaktieren Sie umgehend die Telefonseelsorge (www.telefonseelsorge.de). Sie erreichen diese unter den kostenlosen Telefonnummern 0800-1110111 oder 0800-1110222. Die dortigen Berater zeigen Ihnen Wege aus schwierigen Situationen auf und werden Ihnen helfen.

In lebensbedrohlichen Fällen oder im Zweifel, rufen Sie den Notruf unter 112 oder die Polizei unter 110. Dies gilt auch, wenn Sie vermuten, das andere Menschen sich in akuter Gefahr befinden. Auch wenn Menschen im Internet im Zweifelsfalle Lebensbedrohliches ankündigen, nutzen Sie umgehend den Notruf der Polizei unter 110.

* Der Autor hat alle hier beschriebenen Einsätze als Einsatzkraft selbst erlebt. Zur Wahrung der Privatsphäre wurden sie aber so verfremdet, dass keinerlei Rückschluss auf die Personen gezogen werden kann.

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